Deborah Crombie - 03 Und Ruhe in Frieden 04 Kein Grund zur Trauer
mit den üblichen Eintragungen und einigen säuberlich notierten Telefonnummern, die nicht mit Namen versehen waren.
Kincaid blätterte weiter. Unter dem Datum von Gilberts Todestag stand, mit einem Fragezeichen versehen, »18 Uhr«, dazu eine mit Bleistift geschriebene Telefonnummer. Hatte Gilbert sich an dem Abend mit jemanden getroffen, und wenn ja, warum? Er würde es Deveneys Leuten überlassen müssen, die Eintragungen zu überprüfen, während er selbst sich auf die Vernehmungen konzentrierte. Er klappte das Buch zu und wollte es gerade weglegen, als eine Stimme ihn aufschreckte.
»Was tun Sie da?«
Lucy Penmaric stand mit verschränkten Armen an der offenen Tür und sah ihn stirnrunzelnd an. In Jeans und Sweatshirt sah sie jünger aus als am vergangenen Abend, und ihr blasses Gesicht wirkte ein wenig zerknittert, als sei sie gerade erst aufgestanden. »Ich habe ein Geräusch gehört - ich war auf der Suche nach meiner Mutter«, erklärte sie, ehe er auf ihre Frage antworten konnte.
Kincaid, der nicht hinter Gilberts Schreibtisch stehend mit Lucy sprechen wollte, schob die Schublade zu und kam nach vorn, ehe er sagte: »Ich glaube, Ihre Mutter ist oben und ruht sich aus. Kann ich Ihnen irgendwie helfen?«
»Ach, da habe ich gar nicht nachgeschaut«, erwiderte sie und rieb sich das Gesicht. Sie ging zu dem dunklen Sofa und setzte sich. »Ich kann irgendwie nicht richtig wach werden - ich bin wie benebelt.«
»Das ist wahrscheinlich die Schlaftablette. Wenn man so was nicht gewöhnt ist, fühlt man sich hinterher immer ein bißchen verkatert.«
»Ich wollte auch gar keine haben. Ich hab’ sie nur genommen, damit meine Mutter endlich Ruhe gibt. Ist sie - wie geht es ihr heute morgen?«
Kincaid hatte keine Skrupel, Claires Ohnmacht in der Küche zu unterschlagen. »Ganz gut eigentlich unter den Umständen. Sie war gleich heute morgen bei Ihrer Großmutter.«
»Bei Gwen? Ach, arme Mama«, sagte Lucy kopfschüttelnd. »Gwen ist nicht meine richtige Großmutter, wissen Sie«, fügte sie belehrend hinzu. »Die Eltern meiner Mutter sind tot, und die meines Vaters sehe ich nur sehr selten.«
»Warum denn? Versteht Ihre Mutter sich nicht mit Ihnen?« Kincaid lehnte sich an die Schreibtischkante, um abzuwarten, wohin das Gespräch führen würde.
»Alastair hatte immer irgendeinen Grund, mich nicht hinfahren zu lassen, aber ich mag sie sehr gern. Sie wohnen in der Nähe von Sidmouth in Devon, fast direkt am Meer.« Lucy drehte eine Haarsträhne um ihren Finger, während sie einen Augenblick versonnen schwieg, dann sagte sie: »Ich weiß noch, wie mein Vater gestorben ist. Wir haben damals in London gewohnt, in einer Wohnung in Eigin Crescent. Das Haus hatte eine leuchtend gelbe Tür - immer wenn wir heimgekommen sind, konnte ich sie schon aus weiter Ferne sehen. Wir hatten die oberste Wohnung, und draußen vor meinem Fenster war ein Kirschbaum, der jeden Frühling geblüht hat.«
Hätte er überhaupt einen Gedanken an Claire Gilberts ersten Ehemann verschwendet, so hätte er angenommen, daß sie geschieden waren; eine Frau Mitte Vierzig und schon zum zweitenmal verwitwet, auf den Gedanken wäre er nicht gekommen.
»Ja, das war sicher sehr schön«, sagte er gedämpft, als Lucys Schweigen sich so in die Länge zog, daß er fürchtete, sie könnte sich ganz von ihm zurückgezogen haben.
»Ja«, antwortete Lucy mit einem Frösteln. »Aber jetzt muß ich bei Kirschblüten immer an den Tod denken. Ich habe gestern nacht von ihnen geträumt. Ich habe geträumt, ich wäre ganz zugedeckt von ihnen und würde ersticken. Ich konnte einfach nicht wach werden.«
»Ist Ihr Vater im Frühling gestorben?«
Lucy nickte. Sie strich sich das Haar aus dem Gesicht und schob es hinter ihr Ohr. Sie hatte kleine Ohren, zart wie Muscheln. »Als ich fünf Jahre alt war, war ich einmal sehr krank. Ich hatte hohes Fieber. Es war nachts. Mein Vater ist zur Nachtapotheke in der Portobello Road gegangen, um etwas für mich zu holen, und als er über den Zebrastreifen ging, hat ihn ein Auto angefahren. In meinem Kopf ist das jetzt alles ein einziges Kuddelmuddel - wie die Polizei kam, wie meine Mutter geweint hat, und die Kirschblüten draußen vor meinem offenen Fenster.«
Claire Gilbert hatte also schon einmal einen Ehemann durch einen gewaltsamen Tod verloren. Er erinnerte sich der Tage, als es noch zu seinen Aufgaben gehört hatte, Todesmeldungen zu überbringen,
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