Deborah Crombie - 05 Das verlorene Gedicht 06 Boeses Erwachen
ich sehe, haben Sie Ihre unmittelbare Umgebung in dem alten Gemäuer hier etwas auf Vordermann gebracht. War das Annabelles Büro?«
»Nein. Annabelle hat sich den Raum daneben mit Teresa geteilt. Teresa verkraftet das nur schwer. Die ständige Erinnerung ... Ich glaube, ich hätte das nicht ertragen ...« Mortimer schüttelte den Kopf. »Büroraum war bei uns immer knapp. Das ist eines der Probleme mit dem zugigen, alten Gemäuer, das und die Feuchtigkeit«, fügte er geistesabwesend hinzu. Gemma hatte das Gefühl, daß er mit den Gedanken ganz woanders war.
»Da sind noch ein paar Dinge, die wir gern mit Ihnen geklärt hätten, Mr. Mortimer«, begann Kincaid. »Wußten Sie, daß Annabelle ihre Anteile an der Firma Harry und Sarah Lowell vermacht und deren Vater als Treuhänder eingesetzt hat?«
Gemma zückte unauffällig ihr Notizbuch, während sie Mortimers Reaktion beobachtete. Er verzog zwar kurz das Gesicht, doch seine Antwort kam schnell und spontan. Gemma ahnte sofort, daß er vorbereitet war.
»Bis gestern hatte ich keine Ahnung. Teresa und ich haben heute nachmittag eine Verabredung mit der Anwältin. Mal sehen, was wir tun können.«
»Dann teilen Sie Jo Lowells Ansicht, daß ihr Exmann Schwierigkeiten machen wird?«
»Persönlich habe ich nichts gegen Martin Lowell. Trotzdem macht uns die Vorstellung Sorge, daß jemand, der mit dem Teegeschäft überhaupt nicht vertraut ist, einen großen Teil der stimmberechtigten Anteile besitzt. Das verstehen Sie sicher«, fügte er geschäftsmäßig hinzu.
Gemma sah von ihren Notizen auf. »Finden Sie es nicht merkwürdig, daß Ihre Verlobte so etwas Wichtiges wie ihre testamentarischen Verfügungen nicht mit Ihnen besprochen hat?«
Mortimer bog leicht den Kopf zurück und spielte mit dem Kugelschreiber auf seiner Schreibunterlage. »Annabelle war geradezu fanatisch auf ihre Eigenständigkeit bedacht. Außerdem hat sie es wohl nicht für nötig gehalten, über so etwas zu reden«, fügte er ausdruckslos hinzu.
»Vielleicht wollte sie bis nach Ihrer Heirat warten und Sie dann als Erben einsetzen«, schlug Gemma vor.
»Vorauszusagen, was Annabelle getan >hätte, wenn<, erscheint mir ein besonders fruchtloses Unterfangen.«
Gemma erkannte ihr Stichwort. »Hatte Annabelle ihre Meinung bezüglich der Hochzeit geändert? Ging es bei Ihrem Streit am Freitag abend vielleicht darum?«
Mortimer wurde sichtlich blaß. »Wovon ... wovon reden Sie? Sie hatte ihre Meinung selbstverständlich nicht geändert. Ich habe doch gesagt ... Sie hat sich nicht gutgefühlt.«
»Komisch«, fiel Kincaid ein. »Jo Lowell erzählt, daß Sie beide Streit hatten und daß Sie auf Annabelle auf der Straße gewartet haben, ohne sich bei Ihrer Gastgeberin zu verabschieden. Ich kann mir nicht vorstellen, daß Sie so unhöflich gewesen wären, wenn der Abend für Sie friedlich geendet hätte.«
Mortimer sah von einem zum anderen. »Es klingt jetzt alles so idiotisch.« Tränen traten in seine Augen, und er wischte sie mit dem Handrücken weg. »Und wir haben keine Chance, zurückzunehmen ... was wir gesagt haben.«
»Wir alle haben dumme Auseinandersetzungen«, warf Gemma ein und vermied es, Kincaid anzusehen. »Wenn wir Glück haben, können wir sie bereinigen. Bauschen Sie die Sache nicht auf, nur weil Ihnen das jetzt verwehrt ist.«
Reg stieg Röte in die Wangen. »Also gut«, sagte er nach kurzem Zögern. »Annabelle war wütend, weil sie glaubte, Jo habe mit mir geflirtet... Ich habe doch gesagt, daß es idiotisch war.«
»Und hat Jo mit Ihnen geflirtet?« wollte Kincaid wissen. »War da was dran?«
»Nein, natürlich nicht. Annabelle war nur nicht gut drauf.« Reg sah weg und zuckte verlegen die Schultern.
»Vielleicht habe ich Jo mehr Aufmerksamkeit geschenkt als sonst, weil Annabelle so widerborstig war. Und Jo schien das zu genießen. Das war alles. Es war dämlich, ich weiß, aber wenn man sich so lange kennt, verfällt man leicht in alte, kindische Rituale.«
»Wissen Sie, weshalb Annabelle so schlecht drauf war?«
»Ich habe keinen Schimmer. In letzter Zeit hat es hier in der Firma mehr Streß gegeben als sonst. Das ist alles.« Er sah sich seufzend um. »Sie hat Änderungen vorgenommen, die tiefgreifenden Einfluß auf die Zukunft der Firma gehabt hätten ... neue Produkte, neue Verpackungen, neue Marketingstrategien. Jetzt ...« Reg sank in seinen Stuhl und schüttelte den Kopf. »Ich
Weitere Kostenlose Bücher