Deborah Crombie - 05 Das verlorene Gedicht 06 Boeses Erwachen
nachdenklich: »Wie seltsam. Du mußt Ralph fragen, ob er etwas von diesen Gedichten gewußt hat.«
»Ralph Peregrine? Ihr Verleger?« fragte sie.
»Ein netter Typ. Lydia und er haben sich gut verstanden. Kennst du ihn?«
Vic nickte. »Flüchtig. Er war sehr freundlich. Er hat mir alles erzählt, was er über Lydias Arbeitsmethode wußte, und hat mir Kopien von seiner Korrespondenz mit ihr gemacht.«
»Und darin stand nichts über diese Gedichte?«
»Absolut nichts. Sie hatte ihm über die Jahre einige nette, recht unterhaltsame Briefe aus dem Ausland geschrieben. Das Geschäftliche haben sie wohl ausschließlich persönlich besprochen.«
»Das macht Sinn. Schließlich lebten sie beide in Cambridge.« Nathan schwieg eine Weile. Dann lächelte er sie strahlend an. »Du könntest Daphne fragen.«
»Genau das hat Adam auch gesagt - nur in einem anderen Zusammenhang. Was ... ?«
»Wie verlief denn dein Besuch bei Adam?« fiel Nathan ihr ins Wort. Das klang plötzlich gönnerhaft.
»Ganz anders, als ich erwartet hatte«, antwortete Vic lächelnd. »Adam war sehr charmant und hat mir guten Sherry serviert. Und alles nur wegen des Persilscheins, den du mir ausgestellt hast.«
»Adam hatte schon immer eine Schwäche für exquisiten Sherry - ist vermutlich der einzige Luxus, den sich der arme Kerl gönnt. Er war derjenige, der den Sherry-Party-Kult im College begründet hat.« Nathan schenkte sich prompt Whisky nach. »Lydia hat diese Tradition aufgegriffen, allerdings mit mehr Stil. Hatte ich fast vergessen.«
»Warum ist Adam eigentlich immer >der arme Kerl< für dich?« wollte Vic neugierig wissen. »Zugegeben, das Pfarrhaus ist ein bißchen runtergekommen, wie Adam selbst auch, aber er scheint sich in diesen Verhältnissen recht wohl zu fühlen.«
Nathan zog eine Grimasse. »Da hast du absolut recht. Ist ziemlich arrogant von mir. Das kommt davon, wenn man die eigenen Ambitionen auf andere überträgt.« Er trank einen Schluck Whisky. »Aber wir alle - Adam, Darcy und ich - kamen aus gutsituierten Familien. Allerdings waren meine Eltern etwas weniger begütert als die von Adam und Darcy. Tatsache bleibt, daß wir dieselben Ansprüche ans Leben hatten. Darcy und ich haben es zu etwas gebracht, so bescheiden es auch sein mag. Aber Adam ...«
»Was?« drängte Vic, deren Neugier geweckt war. Er sah auf. Der Blick aus seinen Augen war unergründlich.
»Adam hat eines Tages aus heiterem Himmel beschlossen, daß ihm das alles nicht ausreicht. Er wollte seinen Beitrag leisten, sein eigenes kleines Biotop auf dieser Welt retten. Kann nicht behaupten, daß er Erfolg hatte - ein fehlgeschlagener Missionsauftrag, dann eine abbruchreife Kirche mit einer völlig überalterten, kranken Gemeinde.«
»Nathan«, sagte Vic entsetzt. »Das klingt ja, als seist du eifersüchtig. Das hätte ich nie gedacht!«
Er sah sie lange an. »Eifersucht? Nein. Schon eher Schuldgefühle. Leider«, sagte er schließlich. »Immerhin hat er wenigstens den Versuch gemacht, etwas für andere zu tun, während wir mit jedem Tag fetter, zufriedener und blinder geworden sind. Ich habe mir immer eingeredet, Barmherzigkeit sei auch Egoismus. Aber das fällt mir zunehmend schwerer.«
»Einen echten Zyniker hättest du nie abgegeben.«
»Danke.« Er lächelte. »Vielleicht habe ich ja noch Hoffnung auf Vergebung. Deine gute Meinung von mir hilft sicher.«
»Was ist mit Daphne? Hat sie auch unter der Seuche des Midlife-Tunnelblicks gelitten?«
»Daphne?« Nathan neigte nachdenklich den Kopf zur Seite. »Ich fürchte, das kann ich nicht beurteilen. Ich hatte nach dem College kaum noch Kontakt zu ihr. Oberflächlich betrachtet, war sie sicher auf der Erfolgsspur.«
»Aber du hast gesagt ...«
»Lydia und Daphne sind eng befreundet geblieben, ja. Ich muß gestehen, daß ich mich schon damals gefragt habe, ob Daphne vielleicht nur wegen Lydia überhaupt mit uns verkehrt hat. Daphne war diejenige, die am meisten über Lydias Arbeit wußte. Besonders in den späteren Jahren.«
»Aber ich habe mit ihr gesprochen.« Vic stellte ärgerlich die Füße auf den Boden. »Sie tut so, als habe sie Lydia seit dem College nicht mehr gesehen. Und in Lydias Unterlagen wird sie nie erwähnt, von den Briefen an die Mutter mal abgesehen ...«
»Daphne ist eine sehr zurückhaltende Person - genau wie Lydia. Als Lydia starb, hat Daphne mich gebeten, ihr alle Briefe an Lydia
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