Decker & Lazarus 07 - Weder Tag noch Stunde
dich, sie sprach doch von seltsamen Anrufen.«
»Das könnte Tarnung gewesen sein.«
»Oder sie hat die Wahrheit gesagt. Vielleicht ist sie mit den Kindern geflüchtet.«
»Wozu dann hierher kommen, Rina? Warum nicht gleich ganz weg? Und warum hat sie den Decknamen gestern benutzt, bevor Gershon ermordet wurde?«
»Möglicherweise hat sie gemerkt, daß Gershon in sehr, sehr großen Schwierigkeiten steckte. Vielleicht hat sie beschlossen, daß Los Angeles nicht weit genug weg war für eine Flucht. Also ist sie nach Israel. Da gibt’s jede Menge Orte, wo sie sich verstecken kann. Die ganzen schwarzen Viertel. Klingt das nicht vernünftig?«
»Schwarze Viertel?« fragte Decker.
Rina lächelte. »Ein semantisches Mißverständnis. Nicht schwarz wie ein Afro-Amerikaner, schwarz wie ein schwarzer Hut, die ultrareligiösen Gebiete. Die Schwarzhüte – die Charedim – müssen mindestens ein Drittel von Jerusalem ausmachen. Der Ortsteil Mea Shearim … also, der ist sehr gut, um sich zu verstecken. Genaugenommen bedeutet der Name hundert Tore. Es ist ein Labyrinth. Voller Durchgänge und Mauern und Tore, die nirgendwohin führen, wie es so oft in Jerusalem ist. Die gesamte Stadt wurde auf einem Dutzend Vorgängersiedlungen gebaut. Deshalb gibt es jede Menge Gebiete unter der Erde – Tunnel, Viadukte, Durchgänge. Es ist der perfekte Zufluchtsort.«
Decker dachte über Rinas Worte nach. Da stand er nun und suchte nicht etwa nach einer, sondern gleich nach zwei getrennten Personengruppen, die ihre Zuflucht im Heiligen Land gesucht haben könnten. Ihm schwirrte der Kopf. Mein Gott, war er müde.
»Ich muß mich wieder an die Arbeit machen. Ich wollte nur bei dir vorbeischauen und dir sagen, daß ich dich liebe. Umarm die Jungen von mir, und gib Hannah ein Küßchen.« Er griente breit. »Und deiner Mom kannst du auch einen Kuß von mir geben.«
Rina boxte ihn in die Schulter – die ohne Schußwunde. »Paß auf dich auf. Ich liebe dich nämlich auch.«
Decker ging zur Eingangstür und drehte sich dann noch mal um. »Rina, wie viele Jahre muß ein Israeli beim Militär dienen?«
»Die Frage kommt jetzt aber überraschend.«
»So ist das eben bei uns Detectives. Gehört zu unserer hervorragenden Befragungstechnik. Weißt du die Antwort auf meine Frage?«
»Die aktive Dienstzeit beträgt drei Jahre für Männer, zwei für Frauen. Danach gibt es Meluim – den Reservedienst ein oder zwei Monate im Jahr.«
»Und bis wann?«
»Bis du nicht mehr atmest.« Rina lächelte entschuldigend. »Ich bin mir nicht sicher. Wenn du zu alt für Meluim bist, dann leistest du einen zivilen Dienst – Haggah. Hilft dir das?«
»Ia, es hilft mir sehr. Ich habe festgestellt, daß ich zwar viel über den Judaismus gelernt habe, aber über die Israelis – oder Israel – weiß ich gar nichts. Vielleicht kannst du da ja irgendwann mal meine Führerin spielen.«
»Du meinst eine Reise nach Israel?« Rina blühte richtig auf. »Peter, was für eine wunderbare Idee!«
Decker lächelte, aber er fühlte sich nicht ganz wohl dabei. Rina dachte an Urlaub. Er unglücklicherweise mehr an Arbeit. Er fragte sich, ob diese Reise nicht vielleicht schon unmittelbar bevorstand.
Marge duckte sich unter dem gelben Absperrungsband hindurch, das vor der Tudorimitation der Yaloms entlanglief. Mit der behandschuhten Hand öffnete sie die Vordertür und trat in die riesige Eingangshalle.
»Hallo!« rief sie. »Jemand da?«
»Hier oben«, antwortete Decker.
Sie ging ein paar Schritte, warf einen Blick ins Wohnzimmer und blieb wie angewurzelt stehen.
Hier schien ein Hurrikan gewütet zu haben. Möbel waren auf den Kopf gestellt, Kissen aufgeschlitzt und auseinandergerissen. Vitrinenschränke waren umgekippt worden, funkelnde Scherben lagen über den Boden zerstreut. Einige der Schaustücke waren zerbrochen, andere noch ganz und standen auf ihren Füßen. Marge nahm an, daß Peter sie wieder so hingestellt hatte.
Sie rief noch einmal: »Soll ich hochkommen?«
»Warte«, brüllte Decker. »Ich komm runter.«
Er erhob sich aus der Hocke, und es krachte in seinen Knien. Er und der Tin Man aus dem ›Wizzard of Oz‹ – sie mußten beide mal geölt werden. Er streifte die Handschuhe ab, ließ seinen Notizblock in die Jacke gleiten und warf noch einen letzten Blick auf das Schlafzimmer der Yaloms. Wer hier herumgefuhrwerkt hatte, hatte es ernst gemeint. Es war nichts ausgelassen oder übersehen worden. Um einen solchen Schaden anzurichten, brauchte
Weitere Kostenlose Bücher