Decker & Lazarus 08 - Doch jeder toetet, was er liebt
weil es ihre ansonsten so blendende Erscheinung störte.«
»Machte der Freund auch einen verstörten Eindruck?«, fragte Decker.
Sie zuckte die Achseln. »Chris ist nur sehr schwer einzuschätzen. Ich achte auch mehr auf die Mädchen. Alles, woran ich mich bei Chris erinnern kann, ist, dass er großartig aussah. Er sieht immer großartig aus.«
»Er ist ein gut aussehender junge«, fügte Gordon hinzu. »Ein talentierter Cellist.«
»Mehr als talentiert«, ergänzte Kathy. »Er spielt wie ein Profi.«
»Er gehört nicht hierher«, fuhr Gordon fort. »Er sollte auf die Juilliard-School gehen.«
»Warum ist er dann hier?«, fragte Decker.
Gordon und Kathy zogen gleichzeitig die Schultern hoch. Sie wussten es auch nicht.
»Sagen Sie’s mir nicht«, sagte Decker. »Er ist ein stiller Junge. Ein Einzelgänger, der mit den anderen nicht gut auskommt.«
»Aber überhaupt nicht«, sagte Kathy. »Er hat Freunde. Er ist sogar ziemlich beliebt. Bei den Jungs ebenso wie bei den Mädchen.«
In Deckers Gehirn entzündete sich ein Funke – geläufiges Persönlichkeitsprofil. Er sagte: »Sie sagten, er sei schwer einzuschätzen. Wie haben Sie das gemeint?«
Kathy dachte einen Augenblick lang nach. »Chris ist sehr … ausgeglichen. So etwas fällt auf, wenn Sie es mit tausend von Hormonen geschüttelten Heranwachsenden zu tun haben.«
»Erwachsener als die anderen Kids?«, fragte Decker.
Kathy nickte. »Ja.«
Jetzt meldete sich plötzlich Gordon zu Wort. »Kathy, ist Christopher nicht einer von den für mündig erklärten Minderjährigen?«
»Ich glaube, er ist inzwischen achtzehn, Sheldon.«
»Aber als er auf die Schule kam, war er ein mündiger Minderjähriger«, sagte Gordon. »Ich erinnere mich genau. Trotz aller Scheidungen und kaputten Elternhäuser haben nur sehr wenige Jugendliche ein eigenes Apartment.«
Bingo! Decker schrieb auf seinen Notizblock: WHIT-MAN, CHRIS. MAULWURF? DROGEN UND SITTE ANRUFEN. »Christopher Whitman hat also eine eigene Wohnung?«
»Ich glaube ja«, sagte Gordon.
»Ist er süchtig?«, fragte Decker.
Gordon sah Kathy an. Sie sagte: »Ich kann mich nicht erinnern, ihn je high gesehen zu haben, aber er treibt sich mit den Drogentypen rum.«
»Aber soweit Sie wissen, nimmt er selber nichts.«
»Soweit ich weiß, nein.«
»Und Sie haben ihn bei dem Abschlussball gestern Abend mit Cheryl zusammen gesehen«, sagte Decker.
»Ja. Ob er auch mit ihr gekommen ist, weiß ich nicht. Aber er und Cheryl standen zusammen rum.«
»Und sie sah traurig aus. Irgendeine Idee, warum?«
Kathy schüttelte verneinend den Kopf.
Decker schwieg. Jay Craine, dem Leichenbeschauer, zufolge war Cheryl wahrscheinlich schwanger gewesen. Wenn Chris Whitman, ihr angeblicher Freund, ein Undercover-Agent des Drogendezernats war und sie geschwängert hatte, wäre er als Cop erledigt.
Wenn das kein Mordmotiv war.
»Ich brauche die Adresse von Chris Whitman«, sagte er. »Und Cheryls Adresse auch. Außerdem werde ich die Adressen aller ihrer Freunde benötigen – Jungen wie Mädchen.«
Gordon sah Kathy an. Sie erhob sich. »Ich suche sie Ihnen gleich raus.«
»Da würde ich gerne mitkommen«, sagte Decker. »Einen Blick auf Whitmans Akte werfen.«
Kathy warf Gordon einen Blick zu. Er winkte ab. »Lass ihn ruhig reinsehen.«
Decker folgte Kathy in die Registratur – einen langen, kellerartigen Raum, der mit Metallregalen vollgestellt war. Sie ging zu einem Abschnitt, der mit AKTUELL markiert war, ging die Ws durch und zog schließlich Whitmans Akte hervor.
»Hier, bitte.«
Decker ging die Angaben durch. Den Unterlagen zufolge war Whitman annähernd neunzehn Jahre alt – alt für einen Highschool-Schüler. Er war in der Mittelstufe von der St. Matthews High in Long Island, New York, hierher übergewechselt. Über seine frühere Schulausbildung waren nur ein paar mittelmäßige Noten vermerkt. Kein Eintrag in der Zeile ELTERN ODER VORMUND. Er hatte der Schule zwar seine aktuelle Adresse und Telefonnummer mitgeteilt, aber niemanden angegeben, der im Notfall benachrichtigt werden sollte. Er zeigte der Mädchenbeauftragten die Papiere.
»Die Angaben sind nicht vollständig.«
Kathy nahm die Kopie. »Er kam mitten im Schuljahr. Manchmal schicken die Schulen nur einen Teil der Unterlagen. Der Rest kommt dann normalerweise hinterher.«
»Sonst noch was in seiner Akte?«
Wieder arbeitete Kathy sich durch die Aktenreihen. Schließlich schob sie die Schublade zu und schüttelte mit einem verwirrten
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