Decker & Lazarus 09 - Totengebet
nachdem Yitzchak das Augenlicht verloren hatte, hat ihn von Zimmer zu Zimmer getragen, als er nicht mehr gehen konnte, hat ihn gefüttert, gebadet … Yitzy die Tefillin, die Gebetsriemen, angelegt, o Gott …«
Sie wandte den Blick ab und versuchte, nicht die Fassung zu verlieren.
»Gegen Ende musste Yitzy rund um die Uhr betreut werden. Ich hatte zwei kleine Kinder, die keine Ahnung hatten, was mit uns geschah, nur dass ihr Vater … Bram hat sich um Yitzchak gekümmert, damit ich mich um die Jungs kümmern konnte. Damit ich Luft holen konnte. Es gab Zeiten … Wenn Bram nicht gewesen wäre, ich glaube, ich wäre verrückt geworden.«
Für einen Moment schwiegen beide.
Decker machte eine fragende Geste. »Wo waren seine jüdischen Freunde? Wo waren deine Eltern, seine Eltern?«
Rina fuhr sich mit der Hand über die Augen. »Sie kamen alle zu Besuch, seine Freunde, die Rabbiner. Alle, ohne Ausnahme. Und es waren viele. Sehr treue Freunde. Aber sie mussten eben irgendwann nach Hause. Sie hatten Familie, Peter. Sie hatten ihr eigenes Leben.«
»Und Bram hatte kein eigenes Leben?«
»Er war ungebunden. Ich glaube, er hatte gerade sein Priesterseminar abgeschlossen oder stand kurz davor. Jedenfalls war er noch nicht zum Priester geweiht. Das weiß ich noch.«
»Er hatte keinerlei Verpflichtungen?«
»Wohl kaum. Seine Motive habe ich nie in Frage gestellt. Sie waren vor Yitzchaks Krankheit Freunde gewesen. Zwei Religionsgelehrte verschiedener Konfession. Sehr kontroverser Konfessionen. Rückblickend ist mir jetzt klar, wie sehr Yitzchak diese intellektuellen Auseinandersetzungen geliebt hat. Beide haben sie mit großer Begeisterung geführt …«
Plötzlich fiel Decker ein, was der Priester ihm über einen alten Freund erzählt hatte, die Leidenschaft in seiner Stimme …
Wir haben stundenlang über Gott debattiert. Ich habe ihn wie einen Bruder geliebt. Eines Tages wurde er krank. Zehn Monate später war er tot.
Eine jener Freundschaften, wie man sie nur einmal im Leben hat, die zwei Menschen außerhalb jeder Rationalität zusammenschweißt. Ähnlich seinem Verhältnis zu seinem alten Kriegskameraden Abel.
Rina verkrampfte die Hände ineinander, sah ihren Mann an. »Meine Eltern waren im Übrigen eher Belastung als Hilfe. Sie konnten mit der Situation nicht umgehen. Genauso wenig wie Yitzchaks Eltern. Das war uns beiden von Anfang an klar gewesen. Nicht, dass ich ihnen Vorwürfe machen würde, vier Überlebende der Konzentrationslager, es ging einfach über ihre Kräfte. Yitzy hatte seine Eltern beschworen, in New York zu bleiben. Er konnte die Qual in ihren Gesichtern nicht ertragen.«
Rinas Unterlippe bebte.
»Wir haben sie auf Distanz gehalten, so getan, als stünde es besser um Yitzchak als es tatsächlich der Fall war, bis auf die letzten Wochen, da konnten wir nicht mehr lügen.«
Decker zog seine Frau spontan an sich und umarmte sie. Sie schlang die Arme um ihn, ließ sich von dem Mann trösten, den sie liebte.
Die Schwingtür flog erneut auf. Rina zuckte zurück, trocknete automatisch die Tränen.
Brams Blick ruhte auf Rinas Gesicht und glitt dann weiter zu Decker. Decker war der Funke tiefsten Verständnisses nicht entgangen, der zwischen den beiden gezündet hatte. War dieser Blick gleichzeitig eine Einschätzung seines Wertes als Yitzchaks Nachfolger gewesen? Das Verlangen nach dem, was hätte sein können? Oder neigte er in seiner Müdigkeit und Reizbarkeit zu übersteigerter Fantasie?
Decker wich dem Blick nicht aus. »Sie haben sehr schön gesprochen, Pater. Eine sehr eloquente Totenrede.«
»Danke.« Bram nickte ernst. »Obwohl Worte die Gefühle nie genau wiedergeben können, versucht man sein Bestes. Danke, dass Sie gekommen sind.«
Die Tür ging erneut auf. Ein Küchenmädchen kehrte mit leeren Platten zurück. Dann sah sie Bram. »Usted quiere comida, Padre?«
»Nada, Bonita. Gracias. No tengo hambre ahora.«
»Señor?« Sie sah Decker an.
»Nada, gracias.«
Das Mädchen zuckte die Schultern, trat an die Anrichte und füllte die Platten erneut mit Törtchen.
Bram strich sich das Haar aus der Stirn. »Der Mann, der meinem Vater sein erstes Motorrad verkauft hat, ist da. Er heißt – das ist kein Witz – Grease Pit. Sozusagen ein Schmiermaxe. Er und sein Gefolge in der schweren Lederkluft sind gerade eingetroffen.«
»Machen Sie Schwierigkeiten?«, fragte Decker.
»Überhaupt nicht. Ich dachte, Sie wollten ihnen vielleicht vorgestellt werden.«
»Sicher. Danke.« Decker
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