Decker & Lazarus - 18 - Missgunst
unterscheidet es sich nicht groß von dort, wo ich jetzt bin, aber mein Revier ist wohlhabender. Es gibt weniger Gewaltverbrechen.«
»Also fehlt Ihnen die Action nicht?«
»Manchmal vermisse ich den Außendienst, aber ich bin zufrieden. Es tut gut, ein Büro mit einer Tür zu haben, die man zumachen kann.«
Das hier sah nicht aus wie die sonnige Seite Mexikos, die von Margarita trinkenden Auslandsamerikanern am weißen Strand vor lapislazuliblauen Wellen bevölkert wurde. Das hier ähnelte der Baja California aus Olivers Kindheitserinnerungen: ein in Armut versunkenes Land voller Habenichtse, mit Baracken und angebauten Schuppen und Blechdachhütten. Tijuana lag damals nur einen Katzensprung hinter der Grenze und schien doch Lichtjahre entfernt. Als er älter war, hatten er und ein paar Armeekumpel oft die Schattenseite besucht, um an billigen Fusel und alte Huren zu kommen – das Ritual zum Erwachsenwerden. Die ciudads hier bestanden aus endlosen Reihen von provisorischen Häusern, die man mitten ins Nichts hingerotzt hatte. Wie in Tijuana hatten die Bewohner der südlichen ciudad von Ponceville versucht, ihre Umgebung mit Fassadenanstrichen in knalligen Farben aufzuheitern: Wasserblau, Zitronengelb, Froschgrün und Dunkellila. Mit achtzehn waren ihm die leuchtenden Farben so exotisch vorgekommen. Heute machten sie ihn bloß noch traurig.
Es gab nur wenige Wegweiser, aber Sheriff T kannte sich aus. Das Dienstfahrzeug war ein dreißig Jahre alter Chevrolet Suburban, und als T das Ungetüm über die Schotterstraßen lenkte, schüttelte es alle drei auf den dünn gepolsterten Sitzen ziemlich durch. Er hielt mitten auf der Fahrbahn vor einer orangefarbenen Baracke.
Die drei stiegen aus. T schritt zur Tür und versetzte ihr einen harten Schlag. Ein gerade mal dreizehnjähriges Mädchen öffnete ihnen, auf dem Arm ein molliges Baby und am Rockzipfel ein spindeldürres Kleinkind. Sie war hübsch – dunkles Haar, samtige kaffeebraune Haut, weit auseinanderstehende Augen und hohe Wangenknochen. Sie schwitzte stark, mit Tropfen auf Stirn und Nase. Sie riss die Tür weit auf, und Marge, Oliver und T gingen hinein.
Ein vierjähriger Junge saß auf einem alten Sofa und sah sich in einem auf Kisten thronenden Fernseher Cartoons an. Außer dem Fernseher gab es an Möbeln eine Essecke, zwei Klappstühle und einen Laufstall mit Spielzeug. Ein abgetretener Teppich bedeckte den unfertigen Boden, der aussah, als wäre er aus alten Lattenkisten gebaut worden. Dann war da noch ein durchhängendes Regal mit ein paar Büchern, ein paar DVDs und einer amerikanischen Fahne, die in einer leeren Kaffeekanne steckte.
Die Ausstattung war rudimentär, aber sauber, und der süße Duft nach irgendwas im Backofen erfüllte die Luft. Dessen Hitze fügte noch einmal etwa zwanzig Grad zu dem ohnehin schon drückend heißen Tag hinzu. Marge spürte, wie ihr Gesicht sofort feucht wurde. Sie zog ein Tempo aus der Tasche und reichte eins an Oliver weiter.
Das junge Mädchen verfrachtete das Baby und das Kleinkind in den Laufstall und gab jedem einen Keks. Die beiden Kleinen saßen inmitten einem Meer aus altem Spielzeug, mampften ohne Theater ihre Kekse auf und starrten dabei auf die zuckenden Farbflecken der Cartoons, die den kleinen Jungen in ihrem Bann hielten.
Das Mädchen sah sie ernst an. Sie wischte sich den Schweiß mit dem Handrücken aus dem Gesicht und fing an, Spanisch zu sprechen, wobei ihre Stimme deutlich aufgeregt klang. Sie wippte während ihres Vortrags von einem Bein aufs andere und knetete die Hände. Der Sheriff nickte in angemessenen Abständen. Ihre Unterhaltung war kurz, und nach wenigen Minuten erhob sich T und legte ihr eine Hand auf die Schulter. Sofort stiegen ihr Tränen in die Augen, und sie wiederholte immer wieder »gracias« .
Draußen vor der Baracke sagte T: »Sie lebt dort mit ihren Eltern, die beide auf dem Feld arbeiten. Sie ist das älteste von sieben Kindern. Die drei anderen sind in der Schule, aber jemand muss zu Hause bleiben und auf die Kleinen aufpassen.«
»Und was ist mit ihrem Schulunterricht?«, fragte Marge.
»Laut ihrer Geburtsurkunde ist sie sechzehn, was bedeutet, dass sie nicht mehr zur Schule muss.«
»Sie sieht aus wie gerade mal zwölf.«
»Ist sie wahrscheinlich auch, aber ich tue ihrer Familie keinen Gefallen, wenn ich zu viele Fragen stelle.«
»Worum ging’s?«, fragte Oliver.
»Ein Feldarbeiter, ein zwanzigjähriger Dreckskerl, lässt sie nicht in Ruhe; er schleicht sich
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