Decker & Lazarus - 18 - Missgunst
dass sie hierherkommen?«
»Nein, das weiß er nicht«, antwortete Marge kurz und bündig.
»Ich habe nicht viel über Neptune zu sagen. Er ist ein guter Junge.« Noch eine Pause. »Ein bisschen Gesellschaft macht mir aber vielleicht nichts aus.«
»Dann sehen wir uns in ein paar Minuten.«
Porter Bradys Wohnung lag nicht weit vom Jack London Square entfernt – eine Touristenattraktion im Hafengebiet aus alten Lagerhallen, die man zu Einkaufszentren umfunktioniert hatte. Bradys Appartment hatte zwei Schlafzimmer und zwei Bäder und war mit Originalstücken aus den Fünfzigern möbliert. Die waren damals nicht teuer gewesen, aber das Nussholz war zu einem schönen tiefen Gelb wie Portwein nachgedunkelt, und die klaren Linien passten perfekt ins 21. Jahrhundert.
Der alte Herr begrüßte sie in Pyjama, Bademantel und Hausschlappen. Er war spindeldürr und hatte eine ungesunde graue Blässe, ein langes Gesicht und weiße gekräuselte Haare, braune Augen und volle Lippen. Im Moment passte seine Hautfarbe zu jeder Rasse, aber sein Haar wies in Richtung schwarz. Noch mehr überraschte sein Alter: Neptune war in den Dreißigern, und der alte Mann schien mindestens siebzig zu sein. Das Geheimnis wurde innerhalb von Sekunden gelüftet.
»Ich bin sein Großvater, aber ich habe ihn aufgezogen. Also bin ich sein Vater.«
Marge nippte an einem Becher mit süßem Tee. »Der schmeckt gut, vielen Dank.«
»Meine eigene Mischung.«
»Köstlich.« Sie holte ihren Notizblock hervor. »Sind Sie Neptunes Großvater mütterlicherseits?«
»Väterlicherseits«, sagte Porter Brady. »Sein Vater, mein Sohn, wurde vor Neptunes Geburt ermordet. Mit achtzehn. Er hatte sich auf die falschen Leute eingelassen.«
»Was ist mit Neptunes Mutter?«, fragte Oliver.
Der alte Mann lehnte sich auf seinem Diwan zurück, wobei sein Bademantel sich öffnete und einen eingefallenen Brustkorb enthüllte. »Sie kommt aus einer weißen Familie auf der anderen Seite der Bucht. Sie arbeitete als Lehrerliebling … nein, nein, nicht Liebling.« Er lachte. »Wie nennt man diese Helfer?«
»Hilfslehrkraft?«, schlug Marge vor.
»Ja, genau, eine Hilfskraft, das stimmt.« Er nickte. »Das stimmt. Sie war nur ein Jahr älter als ihre Schüler. Erstin – mein Junge – saß in ihrer Klasse. Er sah gut aus, groß und stark und ein Charmeur. Meine Frau starb, als er fünf war. Ich hab’s versucht, aber ich konnte nicht Vater und Mutter sein. Ich musste arbeiten.«
»Welche Arbeit hatten Sie?«, fragte Marge.
»Ich war Hafenarbeiter. Ich habe mein ganzes Leben lang an den Docks ein- und abgeladen. Gute Bezahlung, lange Arbeitszeiten und schlecht für den Rücken. Aber ich habe immer meine Rechnungen beglichen und niemandem jemals einen Cent geschuldet.« Er nippte an seinem Tee. »Wollen Sie noch etwas davon, kleines Fräulein?«
»Nein, danke.«
Porter Brady sah Oliver an. »Und Sie, Sir?«
»Danke, nein«, lehnte Oliver höflich ab. »Ihr Sohn hatte also nicht dieselbe Arbeitsmoral wie Sie?«
»Pah.« Er warf eine Hand in die Luft. »Erstin hatte nur in einer Sache eine Arbeitsmoral. Er machte sich mit fünfzehn zum Vater und dann noch mal mit sechzehn. Als er bei Wendy ankam, war er ein echter Profi.«
»Das sind viele Babys«, sagte Marge. »Haben Sie zu allen Enkeln Kontakt?«
»Einer sitzt im Gefängnis.« Porter Brady verdrehte die Augen. »Der andere mochte von Anfang an Autos. Er zog nach St. Louis und verkauft heute Porsches. Ein guter Junge.«
Noch ein Schluck Tee.
»Erstin wurde ungefähr zwei Monate vor Neptunes Geburt erschossen. Die Eltern des Mädchens hätten das Baby am liebsten natürlich zur Adoption freigegeben. Als ich davon hörte, habe ich Ärger gemacht. Ich wollte den Jungen, vor allem, weil ich gerade meinen eigenen Sohn verloren hatte …« Sein Blick wurde nachdenklich. »Ein Richter sah es genauso wie ich. Das Mädchen verzichtete auf alle Rechte ihm gegenüber.«
»Kennen Sie den vollen Namen des Mädchens?«, fragte Oliver.
»Wendy Anderson …« Er ließ beide Hände in den Schoß fallen. »Eines Tages rief sie mich aus heiterem Himmel an, sie wollte den Jungen sehen, und ich habe zugestimmt. Neptune war ein gut aussehender junger Kerl – groß wie sein Vater, aber er sah aus wie seine Mutter. Und er war ein Charmeur wie sein Vater.«
Die Detectives warteten ab.
»Am nächsten Tag standen Wendy und ihre Eltern also vor der Tür, ganz freundlich und entspannt. Erst wollten sie nichts mit dem Jungen zu tun
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