Deebs, Tracy - Tempest - 01 - Tochter des Meer
Armen.
Fast vierzig Stunden später kam ich wieder an die Oberfläche, geschwächt, hungrig und restlos erschöpft. Ich hatte versucht, der Karte zu folgen, die Konas Butler für mich gezeichnet hatte, doch ich war öfter in die Irre geschwommen, als ich zählen konnte, und länger unterwegs gewesen als beim ersten Mal, nachdem ich Kona ins Meer hinterher gesprungen war.
Es war dunkel, mitten in der Nacht, dem verlassenen Strand und den Sternen nach zu urteilen, die am Himmel funkelten, und ich fragte mich, wie lange ich wohl fort gewesen war. In Konas Welt war es eine Woche gewesen. Hieß das, dass es hier zwei gewesen waren? Oder drei?
Was hatte mein Vater meinen Brüdern über meine Abwesenheit erzählt? Und meinen Freunden? Doch dann beschloss ich, dass es keine Rolle spielte. Nichts spielte mehr eine Rolle.
Obwohl meine Kiemen weiter funktionierten und ich noch etwa anderthalb Kilometer draußen war, schwamm ich an der Oberfläche nach Hause, kraulte und atmete, wie ich es vor vielen Jahren gelernt hatte. Mein Nixenschwanz, der aufgetaucht war, kurz nachdem ich Kona verlassen hatte, und mir dabei die Bikinihose zerfetzte, war beim Schwimmen eher hinderlich als hilfreich, weil ich die Füße einzeln bewegen wollte. Daher überlegte ich kurz, wieder abzutauchen und das letzte Stück ans Ufer zu schnellen.
Am Ende ließ ich es bleiben. Es fühlte sich richtig an, es auf diese Weise zu tun und mich langsam in einen Menschen zurückzuverwandeln, mit jeder Wendung des Kopfes und mit jedem Atemzug, den ich einsog.
Es dauerte wesentlich länger, aber jetzt, wo ich fast zu Hause war, hatte ich es nicht mehr eilig. Heimzukommen bedeutete, meinem Vater gegenübertreten und erklären zu müssen, wo ich gewesen war. Ihm erklären zu müssen, dass ich zugesehen hatte, wie meine Mutter vor meinen Augen in Stücke gerissen wurde, und nichts getan hatte, um es zu verhindern. Es war ein Gespräch, auf das ich mich keineswegs freute, von dem ich aber wusste, dass es notwendig war.
Als ich das Ufer erreichte, hatte ich mich vollständig zurückverwandelt. Meine Kiemen hatten die Arbeit eingestellt, meine Flosse war verschwunden und ich war so müde, dass ich mich kaum noch durch den Sand schleppen konnte. Doch ich zwang mich dazu und ignorierte den Schmerz, der, körperlich wie geistig, bei jedem Schritt aus dem Ozean größer wurde.
Schließlich war ich so weit gelaufen, dass mich der Sog des Wassers nicht mehr erreichen konnte. Ich griff in den Rucksack mit Kleidern, den Kona mir gegeben hatte, und zerrte das Erstbeste heraus, das ich in die Finger bekam. Es war ein tropischer Sarong in allen nur denkbaren Lilatönen. Ich hatte ihn noch nie gesehen, und als ich ihn mir wie einen Rock um die Hüften schlang, fragte ich mich flüchtig, ob er ein Geschenk von Kona war. Ich beschloss, dass es keine Rolle spielte, und machte mich auf den kurzen, aber schier endlosen Weg über die schmale Straße, die zu dem Haus hinüberführte, in dem ich aufgewachsen war.
Unterwegs blickte ich über den Strand, den ich besser kannte als mein eigenes Gesicht. Ein Stück weiter unten, links von mir, lag ein Haufen Felsbrocken, auf den die Jungs gern hinaufkletterten, um von oben herunter zuspringen, obwohl die Felsen fast zwei Meter hoch waren. Weiter rechts gab es nichts als frischen, sauberen Sand, kleine Hügel und Täler, die einen Strandspaziergang fast ebenso interessant machten wie Wellenreiten. Fast jedenfalls.
Auch mein Zuhause war immer noch dasselbe. Ich blieb davor stehen und fragte mich, wie es sein konnte, dass hier alles so war wie vorher, während ich mir innerlich völlig verändert vorkam. Während das, was ich für diesen Ort und für mein Zuhause empfand, sich völlig anders anfühlte.
In diesem Moment sah ich sie, die kleine leuchtende Lampe im Wohnzimmerfenster. Es war die gleiche Lampe, die mein Vater jahrelang für meine Mutter hatte brennen lassen, um ihr auf seine Art zu sagen, dass hier bei uns immer ein Platz für sie frei war. Jetzt brannte sie für mich.
Ich zitterte, als ich den Ersatzschlüssel unter dem Blumentopf hervorholte, unter dem mein Vater ihn versteckt hatte, ins Haus schlüpfte und auf Zehenspitzen zur Treppe schlich.
Ich war halb verhungert nach den vielen Stunden im Wasser und wusste, dass ich vor dem Schlafengehen noch etwas essen sollte. Doch ich hatte weder Appetit noch die Kraft zum Essen. Mir war, als könnte ich zwanzig Jahre lang schlafen.
Auf halbem Weg die Treppe hinauf ging
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