Deebs, Tracy - Tempest - 01 - Tochter des Meer
verschlafen.« Als ich mich umdrehte, sah ich gerade noch, wie mein dreizehnjähriger Bruder Rio Moku gegen einen Küchenschrank stieß, und zwar fest.
Einen Moment lang sah es aus, als würde Moku protestieren: Seine Unterlippe zitterte vor Verlangen, sich zu beklagen, doch dann versteckte er den Schmerz, wie er es immer tat. Als hätte er Angst, es könnte niemand da sein, um ihn zu trösten. Es war nicht schwer, sich auszurechnen, woher sein auffälliges Verhalten kam.
Er tat mir von Herzen leid, der kleine Kerl, an dessen Erziehung ich so viel Anteil hatte. Er war neun Jahre jünger als ich und gerade mal zwei gewesen, als meine Mutter uns im Stich gelassen hatte und mein Vater zusammengebrochen war. Wenn es dazu kommen sollte, wenn es mir genauso ergehen sollte wie meiner Mutter, was würde dann aus ihm werden? Wer würde ihn zur Schule bringen, ihm vor dem Schlafen eine Geschichte vorlesen und ihn mitten in der Nacht in den Arm nehmen?
Wer würde ihn vor Rio in Schutz nehmen, der ihn mit grausamem Vergnügen quälte, sobald mein Vater ihnen den Rücken zuwandte?
»Hör auf damit«, befahl ich Rio, während ich die Pausenbrote aus dem Kühlschrank holte, die ich am Abend zuvor für sie vorbereitet hatte.
»Mit was?« Rio war die Unschuld in Person.
»Du weißt schon, was.« Um sicherzugehen, dass er mich verstand, rempelte ich ihn auf dem Weg zum Tisch mit der Schulter an.
»Zum Frühstück gibt es Cornflakes, Mo. Aber ich mache Pfannkuchen zum Abendessen. Wie wäre es damit?«
»Mmmh!«
Hinter ihm gab Rio einen Würgelaut von sich, den ich ignorierte. Entweder das oder der Morgen würde wieder mit einem Streit anfangen.
»Warum bist du auch so ein Hirni?«, fragte Rio Moku mit dem überheblichen Grinsen des älteren Bruders.
»Warum bist du so gemein?«
»Ich bin nicht gemein, bloß ehrlich.«
»Hört auf damit.« Dad kam in seiner normalen Arbeitskluft aus Boardshorts und einem leuchtgelben Surfer T-Shirt in die Küche gefegt. Wenn man ihn so sah, konnte man sich kaum vorstellen, dass er der Direktor einer Firma war, die es vor drei Jahren unter die tausend erfolgreichsten Unternehmen auf der Rangliste der Zeitschrift Fortune geschafft hatte und die dort seitdem beständig höher kletterte. »Morgen, Tempest.«
»Morgen, Dad.«
»Wie waren die Wellen heute?«
»Gut.« Ich konzentrierte mich darauf, Mo seine Fruit Loops in die Schüssel zu schütten, und betete inständig, dass er die Anspannung in meiner Stimme nicht bemerken würde.
»Wirklich?« Er sah aufs Meer hinaus. »Sieht ziemlich rau aus.«
»Das hat gerade erst angefangen«, warf Rio hastig ein, den Mund voller Schokoflocken. »Vorher war es ziemlich ruhig.«
Ich musterte ihn kurz und sah, dass er mit sorgenvollem Blick auf die Wellen starrte, was in völligem Gegensatz zu seiner üblichen Flegelhaftigkeit stand. Plötzlich wurde mir klar, dass er alles mit angesehen und von seinem Zimmer aus beobachtet hatte, wie ich fast ertrunken wäre.
Kein Wunder, dass er noch nerviger war als sonst. Wahrscheinlich war er vor Angst fast verrückt geworden. Wir kamen zwar nicht immer gut miteinander aus, aber wir hielten zusammen. Es war uns gar nichts anderes übrig geblieben, nachdem Mom uns verlassen hatte.
Ich versuchte seinen Blick abzufangen, doch er sah mich nicht an.
»Gut.« Mein Dad ließ die Wellen nicht aus den Augen und ich tat, als wüsste ich nicht, wonach er suchte. Doch auch das war nur eine weitere Lüge. Er suchte das, was er immer suchte: meine Mutter. Es war wirklich ein Jammer, dass er nicht begriff, was uns anderen schon lange klar war: dass es ziemlich aussichtslos war, nach sechs Jahren noch zu hoffen, sie würde nach Hause schwimmen und dort weitermachen, wo sie aufgehört hatte.
Schließlich riss er sich vom Fenster los und konzentrierte sich auf uns. »Irgendwelche Tests heute?«
»Buchstabieren«, sagte Moku stolz.
»Kannst du deine Vokabeln?«
»Tempest hat mich gestern Abend abgefragt. Ich hatte alle richtig.«
Dad warf mir einen dankbaren Blick zu. Moku hatte ADS und wurde außerdem gerade auf Legasthenie getestet. Ihn zum Buchstabieren zu bringen, war schlimmer, als sich die Weisheitszähne ziehen zu lassen - ohne Betäubung. Dad versuchte ebenfalls mit ihm zu üben, aber es war eine Plackerei. Auf mich reagierte Mo einfach besser.
Ein weiterer Grund, warum diese albtraumhafte Geburtstagskiste schlicht und ergreifend zum Himmel stank.
»Ich schreibe heute eine Mathearbeit«, meldete sich Rio zu Wort.
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