Defcon One 01 - Angriff auf Amerika
des Atlantiks zu verschmelzen begann. Blitze zuckten in der Ferne, und ein unheilvolles Donnern bildete den Auftakt zu einer Sinfonie angsteinflößender Klänge, für die der aufziehende Sturm verantwortlich zeichnete. Der Blick über das beängstigende Panorama, in dessen Mittelpunkt das wie ein Kreuz anmutende Flugzeug auf der Katapultführungsschiene thronte, erinnerte auf seltsame Weise an eine Szene aus dem Markusevangelium, in der römische Soldaten am Berg Golgatha Jesus von Nazareth auf seinen Tod vorbereiteten.
Und tatsächlich war das, was in diesen Augenblicken an Bord des nordkoreanischen Tankers geschah, wie eine Ultima Ratio – der letzte Ausweg aus einem lange schwelenden Konflikt, den Steve Miller alias Hannibal alias Manmohan Singh mit sich selber ausgetragen hatte und der ihn, den Wanderer zwischen den Kulturen und Religionen, zu dem einzigen Schluss hatte kommen lassen, den Krieg mitten im Wohnzimmer des verhassten Feindes Amerika zu eröffnen. Nur noch wenige Stunden trennten ihn von seinem Ziel. Dazwischen lagen mehr als zweitausend Meilen endloser Ozean, unberechenbares Wetter und die Tücken der Technik einer Maschine, deren Erstflug vor mehr als einem halben Jahrhundert stattgefunden hatte. Nahezu alle Anspannung war von ihm gewichen, so als habe ihm Gott persönlich alle bedrückenden Gedanken, Zweifel und Sorgen durch ein einziges Einatmen seiner Seele entrissen. Er fühlte sich wie Hernán Cortés, der aus niederem Adel stammende Konquistador, der im Auftrag der spanischen Krone mit wenigen Gefährten Mexiko erobert, das Aztekenreich unterjocht und ein neues mächtiges Reich geschaffen hatte. Er fühlte sich frei wie ein Vogel im Wind, und jegliche Angst war von ihm gegangen.
Bald würde die Neuordnung der Welt nach seinen Maßstäben geschehen, und dann würde sich zeigen, ob die blutige Spur, die er bis zum heutigen Tag hinterlassen hatte, nur ein Tropfen im unendlichen Ozean war.
Die Geschichte würde ihm Recht geben, wenn er sich bald zum unsichtbaren Herrscher über die Welt erheben würde, der er mit seinen erpressten Milliarden neuen Terror und neues Entsetzen in jeden Winkel brächte, sollten die arroganten Führer aller mächtigen Staaten, ob sie gläubig waren oder ungläubig, ob sie demokratisch waren oder kommunistisch, nicht einlenken und einsehen, dass der jetzige Weg ihrer auf Ausbeutung und Unterwerfung basierenden Politik die Menschheit an den Rand der gegenseitigen Vernichtung bringen würde.
Er würde reich sein und diesen Reichtum zur Ausübung von Macht nutzen. Er würde ein Schattenreich regieren, und seine Jünger würden in Scharen seiner Ideologie folgen. Er würde Könige stürzen, Präsidenten aus dem Amt jagen und Diktatoren zu Freiwild erklären. Er würde dem Volk seine Macht zurückgeben und das Zeitalter der Massen einläuten. Er würde zu Ende bringen, was sein Vater, der ihn nach seiner letzten Begegnung verleugnet hatte, begonnen und in der klauenhaften Umklammerung einer Supermacht auf halbem Wege beendet hatte. Er würde es ihnen allen zeigen.
Steve Miller stand alleine und breitbeinig am Bug der Da Bak Sol und schützte mit einer Hand seine Augen vor den Strahlen der Sonne, die in einem kurzen Augenblick durch ein aufgerissenes Loch in der Wolkendecke sein Gesicht erhellten. Sein Körper warf einen Schatten auf das Deck, und für einen Moment war es so, als stünde Kapitän Ahab persönlich auf den Planken des Walfängers Pequod , um nach dem weißen Ungeheuer Ausschau zu halten, welches ihm einst im Kampf ein Bein abgerissen hatte. Regen und Gischt perlten von seinem Gesicht, und eine einzelne Träne, die sich unbemerkt ihren Weg über die nasse Haut bis hinunter zum Kinn bahnte, verriet, dass er in dieser Sekunde so glücklich war wie nie zuvor in seinem Leben. Er lächelte ein letztes Mal, dann drehte er sich um, da der Ruf Hassans zu ihm herüber wehte.
»Wir sind soweit, Hannibal. Es kann losgehen.«
Mit einer Handbewegung gab Miller ein Zeichen und bewegte sich unterhalb der Katapultschiene, die längst über das gesamte Schiff lief, in einer geraden Linie auf den Startpunkt zu. Einige Besatzungsmitglieder, die an Deck mit Reparaturarbeiten beschäftigt waren, sahen ihn verstohlen mit einer Mischung aus Angst, Ehrfurcht und Unglauben an, ohne dass er ihnen die geringste Beachtung schenkte.
Am Turmaufbau, unterhalb dessen sich die Brücke befand, konnte er die Umrisse des Kapitäns und einiger Offiziere ausmachen. Die Da Bak Sol rollte im
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