Defekt
machen. Die Gerichtsmedizin ist für Journalisten und andere
Außenstehende Sperrzone, und insgesamt herrscht hier eine von Feindseligkeit
und Argwohn geprägte Atmosphäre. Benton hat seinen Besuch mit Absicht auf die
späten Abendstunden gelegt, weil er während der Geschäftszeiten nur auf
Widerstand und Ablehnung treffen würde.
Er und Thrush bleiben vor der geschlossenen Tür
eines Autopsiesaals stehen, der dringenden Fällen oder solchen vorbehalten
ist, bei denen Kontaminierungsgefahr besteht oder die als besonders bizarr
gelten. Sein Mobiltelefon vibriert. Er betrachtet die Anzeige: „Unbekannter
Anrufer“ bedeutet normalerweise, dass sie es ist.
„Hallo“,
beginnt Scarpetta. „Hoffentlich
hast du einen schöneren Abend als ich.“
„Ich bin in der Gerichtsmedizin.“ Er wendet sich an
Thrush. „Einen Moment bitte.“
„Das klingt nicht gut“, erwidert Scarpetta.
„Ich erkläre dir alles später. Aber ich habe eine
Frage: Weißt du etwas über einen Zwischenfall in einem Laden für Weihnachtszubehör
in Las Olas vor ungefähr zweieinhalb Jahren?“
„Mit Zwischenfall meinst du
vermutlich Mord.“
„Genau.“
„Spontan fällt mir dazu nichts ein. Vielleicht kann
Lucy ja etwas herausfinden. Ich habe gehört, bei euch schneit es.“
„Wenn du herkommst, werde ich wohl den
Rentierschlitten vom Weihnachtsmann mieten müssen.“
„Ich liebe dich.“
„Ich dich auch“, antwortet er.
Er beendet das Gespräch. „Mit wem haben wir zu
tun?“, fragt er Thrush.
„Tja, Dr. Lonsdale war so nett, mir zu helfen. Sie
werden ihn mögen. Aber die Autopsie hat nicht er durchgeführt, sondern sie.“
Sie ist die Chefin. Und sie hat den
Posten bekommen, weil sie eine Sie ist.
„Wenn Sie mich fragen“, meint Thrush, „ist das
nichts für Frauen. Welche Frau macht freiwillig so einen Job?“
„Es gibt gute Pathologinnen“, widerspricht Benton.
„Sogar sehr gute. Nicht alle haben ihre Stelle nur wegen des Geschlechts
erhalten. Meistens ist es sogar umgekehrt.“
Thrush hat noch nie von Scarpetta gehört. Benton
erwähnt sie nie, nicht einmal gegenüber Menschen, die er recht gut kennt.
„Eine Frau sollte sich so eine Scheiße nicht
anschauen müssen“, beharrt Thrush.
Die Nachtluft weht durchdringend und milchweiß die
Commercial Street entlang. Schnee treibt im Schein der Straßenlaternen und in
den anderen Lichtern der Nacht dahin, bis die Welt in einen unwirklichen
Schimmer gehüllt ist. Die beiden Frauen gehen mitten auf der menschenleeren,
stillen Straße am Ufer entlang nach Osten zu dem kleinen Haus, das Lucy vor ein
paar Tagen angemietet hat, nach dem seltsamen Anruf dieses Hog bei Marino.
Sie macht Feuer im Kamin. Anschließend sitzen sie
und Stevie auf Steppdecken vor den Flammen und drehen sich einen Joint mit
wirklich gutem Gras aus British Columbia, den sie sich teilen. Sie rauchen,
reden und lachen. Dann will Stevie mehr.
„Nur noch einen“, bettelt sie, während Lucy sie
auszieht.
„Das ist aber merkwürdig“, sagt Lucy. Sie starrt auf
Stevies schlanken Körper, der mit roten Handabdrücken, vielleicht Tätowierungen,
bedeckt ist.
Insgesamt sind es vier. Zwei auf den Brüsten, als ob
jemand sie umfassen würde, und zwei auf den Innenseiten der Oberschenkel, als
zwänge ihr jemand die Beine auseinander. Auf dem Rücken, wo Stevie sie,
vorausgesetzt sie sind nur aufgemalt, selbst nicht hätte anbringen können,
befinden sich keine. Lucy traut ihren Augen nicht. Sie berührt einen der
Handabdrücke, legt ihre eigene Hand darauf und liebkost Stevies Brust.
„Wollte nur sehen, ob es passt“, meint sie.
„Aufgemalt?“
„Warum ziehst du dich nicht auch aus?“
Lucy tut das, was ihr gefällt, aber ausziehen wird
sie sich nicht. Stundenlang vergnügt sie sich im Schein des Feuers auf den
Steppdecken, und Stevie lässt sie gewähren. Sie ist leidenschaftlicher als
alle, die Lucy je berührt hat, glatt mit weichen Konturen und so muskulös, wie
Lucy selbst es einmal war. Als Stevie versucht, sie zu entkleiden, und beinahe
heftig wird, sträubt sich Lucy. Irgendwann wird Stevie müde und gibt auf, und
Lucy bringt sie zu Bett. Nachdem Stevie eingeschlafen ist, liegt Lucy wach,
lauscht dem unheimlichen Heulen des Windes und fragt sich, womit das Geräusch
eigentlich wirklich zu vergleichen ist. Irgendwann kommt sie zu dem Schluss,
dass es sie doch nicht an das Rascheln von Seidenstrümpfen erinnert, sondern an
einen gequälten Klagelaut.
7
Der Autopsiesaal ist
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