Dein bis in den Tod
dir, wenn ich dich sehe.«
Ihr Gesicht war wunderhübsch, aber auch nicht nach klassischem Schönheitsideal geformt. Dazu war es zu individuell. Ihr Mund war ziemlich klein und ihre Lippen waren weder voll noch zu schmal. Wenn sie lächelte, bekam sie runde, hübsche Wangen und eine Andeutung von Grübchen direkt neben den Mundwinkeln. Wenn ihr Haar und ihre Augen nicht gewesen wären, hätte sie ausgesehen wie eine x-beliebige, nette, hübsche Frau. Aber ihre Augen waren die einer sehr warmherzigen Frau und ihr Haar …
Ich betrachtete ihr Haar, und sie sagte: »Jetzt wirst du mich gleich fragen: Welche Farbe hat eigentlich dein Haar?«
»Tatsächlich?«, sagte ich lächelnd.
»Alle tun das, früher oder später. Meistens früher.«
»Und was antwortest du?«
»Irgendeine Mischung, antworte ich. Oder kastanienblond, denn dann wissen sie nicht recht, was sie sagen sollen.«
Sie gefiel mir. Sie saß mit geradem Rücken auf der anderen Seite des kleinen Tisches und sah in ihre Kaffeetasse hinunter, während sie sprach. Zwischendurch warf sie mir schnelle, forschende Blicke zu, aber ihre Augen verweilten nicht, sondern zogen sich schnell wieder in die sichere Dunkelheit der Kaffeetasse zurück.
Sie war kein junges Mädchen mehr. Die feinen Fächer von Lachfältchen in ihren Augenwinkeln deuteten an, dass sie die dreißig überschritten hatte. Und die letzten Tage waren auch nicht spurlos an ihr vorübergegangen. Ich nahm an, dass die dunklen, blaugrauen Schatten unter ihren Augen vor einer Woche nicht so sichtbar gewesen waren und dass die zwei angespannten Falten am Ende der Augenbrauen vielleicht letzte Woche noch gar nicht da gewesen waren. Es waren Falten, die an Fühler erinnerten. Solche Falten werden entweder weggewischt, wenn die Trauer verblasst, oder sie beißen sich fest und begleiten dich für den Rest deines Lebens, bis du selbst eines Tages – wenn du Glück hast – einen kleinen Kreis von Trauernden hinterlässt.
Ich sagte: »Solveig …«
Sie sah abrupt auf und es war eine plötzliche Angst in ihrer Stimme als sie sagte: »Ja?«
»Ich … Vor einer Woche – letzten Dienstag – saß ich in der Bryggestue – zusammen mit Jonas, und er …«
Ihre Augen wurden glasig. Ein rasches Zucken lief über ihre weichen Lippen, und der ganze Mund erzitterte. Dann presste sie die Lippen zusammen und wischte sich rasch mit der rechten Hand über die Augen. »Ich – entschuldige …«
Die Frau hinter dem Tresen ging diskret in ein Hinterzimmer und wir hörten Stuhlbeine schaben. Dort begann sie, laut in einer Zeitung zu blättern.
Ich sagte: »Ich will dich nicht – quälen. Das musst du nicht glauben. Ich will ehrlich sein. Ich habe dich um ein Treffen gebeten, weil ich gerne mehr von dir und – Jonas wissen möchte. Weil ich herausfinden will, wer ihn wirklich getötet hat. Und weil ich ihn selbst nicht sehr gut kannte. Ich habe ihn nur einmal an dem Tag getroffen.«
»Nur – letzten Dienstag?« Sie sah mich verwundert an.
Ich nickte. »Ja«, sagte ich heiser.
»Das war – sein letzter Tag. Ich habe darüber nachgedacht, hinterher. Ich habe versucht, mich an alles zu erinnern, was wir an dem Tag gemacht haben, an alles, was wir einander gesagt haben. Aber es war ja nichts Besonderes, denn es war nur ein ganz normaler Tag. Ein ganz normaler Alltag. Und ich wusste nicht – wir wussten nicht – dass es der Letzte war. Wie würden wir leben, Varg, wenn wir wüssten – oder – sollten wir jeden Tag so leben, als sei es der Letzte?« Sie sah mir direkt in die Augen. »Hättest du dann nicht auch vieles anders gemacht?«
»Doch. Doch, das hätte ich – glaube ich.«
»Das hättest du! Alle täten das. Aber wir wissen es einfach nicht, bevor – bevor es zu spät ist.« Sie biss sich mit kleinen Zähnen auf die Lippen. »Ich – ich habe ihn geliebt!«
Ich fühlte mich ungeheuer verwirrt und sagte: »Hör zu, Solveig, ich – bevor du weitersprichst – möchte ich, dass du weißt, dass ich – dass du mir vertrauen kannst – dass ich …«
Sie legte eine Hand leicht auf meine, ein paar Sekunden lang, drückte rasch mein Handgelenk und zog sie dann wieder zurück. Ihre Stimme war weich und warm. »Ich weiß, Varg. Ich weiß, dass du Varg heißt, und ich weiß, dass du Privatdetektiv bist, und ich weiß, dass ich mich darauf verlassen kann, dass du nichts von dem, was ich sage, weitererzählst. Ich kann es dir ansehen. An deinen Augen. Ich glaube sogar – unter anderen Umständen glaube
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