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Dein bis in den Tod

Dein bis in den Tod

Titel: Dein bis in den Tod Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gunnar Staalesen
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Vikinghalle zu gehen, nannten wir sie die Beffe.
    Mit der Beffe fuhren wir auch, als wir einige Jahre später das gleiche Wasser überquerten, um in der gleichen Halle tanzen zu gehen. Nachher fuhr die Fähre nicht mehr und diejenigen von uns, die kein Mädchen kennen gelernt hatten, das sie nach Hause begleiten konnten –»irgendwo draußen nach Sandviken«, denn die Mädchen, die jemand nach Hause begleitete, wohnten immer »irgendwo draußen in Sandviken«, jedenfalls mussten sie immer in eine ganz andere Richtung als wir, die wir kein Mädchen nach Hause begleiten sollten – wir mussten um Vågen herum nach Hause laufen.
    Seit damals hatten sie die Beffe ausgewechselt. Die alte weißbraunschwarze aus Holz war durch eine grünorange Fähre aus Plastik ersetzt worden, die höher als die alte auf den Wellen tanzt und ein anderes Motorengeräusch macht.
    Fast nur aus nostalgischen Gründen ging ich in die Fußgängerzone, kaufte an einem Kiosk eine Zeitung und ging zum Kai, um mit der Beffe über Vågen nach Dreggen zu fahren.
    Die Jahre in Nordnes traten immer klarer hervor, wenn ich so ging, mitten zwischen den Jahreszeiten, und wenn ich Zeit hatte, an sie zu denken. Ich konnte mich nicht daran erinnern, dass die Straßenbahn ganz hinausgefahren war, aber ich erinnerte mich, dass mein Vater, der Straßenbahnschaffner, oben im Haugevei aus dem Bus stieg, mit der Schaffnertasche über der Schulter, die Mütze immer gerade und korrekt auf dem Kopf. Sein Gesicht war im Sommer rot und hatte im Winter einen gräulichen Rotton. Er hatte ein kräftiges, rundes Gesicht, mit deutlichen Hamsterbacken. Sein Mund war immer zusammengekniffen, verkniffen, als hinge er in der Schwebe beim Aus- oder Einsteigen in eine Straßenbahn, die noch nicht gehalten hatte oder gerade losgefahren war. Er kam die Treppen vom Haugeveien herunter, und ich kam ihm entgegengelaufen und rief »Hei!«. Und er zerzauste mein Haar und sah mich mit seinen durchsichtigen, blassen Augen an und fragte, ob ich heute ein lieber Junge gewesen war.
    Und dann ging er nach Hause – zu seinen Büchern. Und zu seinen Zeitungen. Und nach einer Viertelstunde kam meine Mutter aus der Gasse herauf und rief: »Va-arg! Es gibt E-e-ssen!« Und noch heute kann ich die Augen schließen und ihr Gesicht dort unten sehen, immer blass, aber mit weichen Zügen, wie sie überhaupt sehr weich gewesen war: ihr Mund, der in ein schöneres – oder vielleicht jüngeres – Gesicht zu gehören schien, ihre Augen, die dunkler und wärmer waren als die meines Vaters, ihre Stimme, die wie ein einladendes Signal herauftönte.
    Unsere Mittagessen: kariertes Wachstuch, gedünsteter Dorsch den einen, Plukkfisk am nächsten Tag, Fischklöße den einen und Fischauflauf am nächsten Tag, Kartoffelknödel und Salzfleisch den einen, Labskaus am nächsten Tag. Dessert einmal die Woche, sonntags. Gelee mit synthetischem Geschmack, dazu noch warme Vanillesauce. Mein Vater auf der einen Seite des Tisches, meine Mutter auf der anderen, ich in der Mitte, und mir gegenüber das Fenster. Das Fenster war die vierte Person am Mittagstisch, weil sich dahinter das Jahr und die Zeit befanden: strahlender Sonnenschein, strömender Regen, fallende Schneeflocken und knisternder Frost. Das war eine Ewigkeit her.
    Jetzt waren beide tot. Und es war lange her, seit ich zu dritt an einem Mittagstisch gesessen hatte. Und von dem Nordnes von damals war so gut wie nichts mehr übrig.
    Ich ging an Bord der Beffe, blieb in der hinteren Türöffnung stehen und schaute zurück auf Nordnes, auf die hohen, hässlichen Steinfassaden, die Vågen jetzt umgaben, auf die endlose Vielfalt missglückter Architektur, die sich wie eine chinesische Mauer vom Marktplatz bis zum Nordnesbakken erstreckte. Plötzlich wurde ich wehmütig: als würde ich mit der Beffe mein eigenes Traumland, meine eigene Kindheit verlassen. Und ich musste an die denken, die ich dort hinterlassen hatte, die Toten, die ich zu Grabe getragen hatte, die Gesichter, die ich nie mehr wieder sehen würde, die Häuser, zwischen denen ich nie mehr herumlaufen würde, nicht als kleiner Junge und nicht als erwachsener Mann – weil nicht einmal die Häuser mehr standen. Nicht einmal die.
    Wir segelten auf Fløien und Deggen und Stadtteile zu, die noch relativ unberührt waren. Den Berghang hinauf stritten sich immer noch die kleinen Holzhäuser um den Platz, Bryggen entlang stand noch immer eine gezahnte Reihe alter Häuser. Und Fløien über dem allen, mit den

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