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Dein bis in den Tod

Dein bis in den Tod

Titel: Dein bis in den Tod Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gunnar Staalesen
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war – etwas Romantisches, sagte er immer. Aber für mich … Ich meine, auch meine romantischen Gefühle für Jonas waren stark, das meine ich nicht. Aber auch sexuell – für mich war er – ich hatte nie etwas Ähnliches erlebt. Er war …« Sie dämpfte die Stimme, faltete ihre Hände, wickelte ihre Finger ineinander. Ihr Goldring schimmerte. Draußen war es dunkler geworden, eine bleigraue Dämmerung. Man hörte das gleichmäßige Rauschen des Verkehrs. Ein gelber Bus hielt auf der anderen Straßenseite, vor Schøttstuene. »Er war der Erste – der einzige –, der es geschafft hat, dass ich mich wirklich als Frau fühlte. Ganz und gar.« Sie dämpfte die Stimme noch eine Nuance. »Wir – Reidar, mein Mann, und ich – wir hatten es nicht so gut miteinander, nicht so …«
    Sie errötete plötzlich. Es war eine leichte, fast durchsichtige Röte, als würde sie erst jetzt bemerken, dass sie hier saß und einem Menschen – einem Mann –, den sie erst seit einer halben Stunde kannte, die intimsten Dinge anvertraute.
    Wir saßen eine Weile stumm. Ein Kunde kam herein. Es war ein Mann mittleren Alters, der ein halbes Kneippbrot kaufte und wieder ging. Die alte Frau bediente ihn und ging dann wieder in das Hinterzimmer. Auf dem Weg dorthin blickte sie auf die Uhr.
    Solveig Manger sagte: »Kennst du Reidar – meinen Mann?«
    Ich schüttelte den Kopf. »Nein.«
    Sie suchte in ihrer Tasche nach einer Brieftasche, zog ein Foto heraus und reichte es mir über den Tisch. Es war ein Amateurfoto von einem Mann in hohen, grünen Gummistiefeln, hellblauen Jeans, blauem Anorak und einem offenen, karierten Flanellhemd. Er saß auf einem Stein irgendwo an einem Fluss. Sein Haar war struppig und recht kurz geschnitten und er trug einen roten Vollbart. In dem Bart lächelte er angestrengt mit einem kleinen jungfräulichen Lehrerinnenmund.
    »Reidar«, sagte sie.
    Ich nickte. »Jonas sagte, dass er ihn mochte. Er arbeite irgendwie mit amerikanischer Literatur an der Universität, sein Spezialgebiet sei Hemingway, und er würde beim Anblick einer lebenden Forelle ohnmächtig werden.«
    Sie lächelte blass. »Jonas’ Fehler war – ab und zu –, dass er sich etwas zu kategorisch über andere ausließ. Er war der Typ, der seine Großmutter für einen guten Spruch verkauft hätte. Reidar ist wirklich kein Hemingway, Gott bewahre! Dann hätte ich ihn nie geheiratet. Aber ich vermute, er hat in seinem Leben mehr lebende Forellen gesehen als Jonas. Und er liebt die Natur. So haben wir uns übrigens kennen gelernt, auf einer Fjellwanderung. Im Jotunheimen. Er – wir waren gute Kameraden. Wir leben zusammen und ich habe ihn einmal sehr geliebt, ich habe ihn früher mehr geliebt – bevor ich Jonas traf, meine ich. Und jetzt – jetzt weiß ich nicht. Jetzt, wo Jonas nicht mehr da ist: Vielleicht kann ich ihn wieder lieben lernen. Wenn er mich haben will. Es kam immerhin wie ein Schock – auch für ihn. Er hatte wirklich keine Ahnung …«
    »Von dir und …«
    »Ja. Gar keine. Er – nachdem die Polizei mit ihm gesprochen hatte, kam er blass und erschöpft nach Hause, mit ganz verzerrtem Gesicht. Aber er sagte nichts, er machte mir keinen Vorwurf. Er sah mich nur an. Ich – das war fast schlimmer als alles andere, verstehst du? Aber er ist ein guter Mensch – er würde nie – es würde ihm zum Beispiel nie einfallen – gewalttätig zu werden. Aber ich weiß nicht, wie es mit – uns weitergehen soll …«
    Sie sah vor sich hin, als spiele es eigentlich keine Rolle, als läge der Rest des Lebens sowieso vor ihr wie eine endlose Busfahrt, eine Busfahrt von der Arbeit nach Hause durch eine bleigraue Dämmerung, die nie Nacht und nie Tag werden würde und nie zu Ende ginge. »Reidar – hätte es niemals verstanden. Was Jonas und ich miteinander hatten – es war etwas, das niemand anders verstehen konnte, nur wir beide.«
    »Das Privileg aller Liebenden?«, fragte ich vorsichtig.
    »Ja – vielleicht. Vielleicht ist es nur eine Illusion. Vielleicht war es doch nichts so Besonderes, sondern etwas, das alle irgendwann einmal erleben – wenn sie Glück haben.«
    Sie leerte ihre Kaffeetasse. »Es ist merkwürdig«, fuhr sie fort. »Es ist merkwürdig, wie uns das Leben irgendwie einfach widerfährt, ab und zu. Zehn Jahre zu spät. Denn wir hätten uns vor zehn Jahren begegnen sollen, Jonas und ich. Da waren wir beide jung und frei und ungebunden. Wir waren doch füreinander bestimmt, von Anfang an. Es konnte nicht anders kommen. Nach

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