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Dein bis in den Tod

Dein bis in den Tod

Titel: Dein bis in den Tod Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gunnar Staalesen
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war windig geworden, ein kalter und frühlingshafter Wind, der ihr das Haar aus dem Gesicht wehte und es nackt und offen vor mir entblößte. Sie sagte: »Du hast vergessen, mir zu erzählen – hatte ich dich nicht schon mal irgendwo gesehen?«
    Ich sagte: »Letzten Dienstag. Ich war kurz in der Agentur, um mit Jonas zu sprechen. Ich stand an der Rezeption und du gingst direkt an mir vorbei.«
    Sie sagte: »O ja – jetzt erinnere ich mich. Tja.« Sie streckte mir ihre Hand entgegen. »Dann verabschiede ich mich. Ich bin froh, dass ich mit dir sprechen konnte. Es – ich glaube, es hat mir gut getan. Danke.«
    Ich nahm ihre Hand zwischen meine Hände und hielt sie fest. »Danke, Solveig«, sagte ich. Meine Stimme war belegt und meine Augen wanderten über ihr Gesicht, als wollte ich mir jeden ihrer Züge einprägen, für den Fall, dass ich sie niemals wieder sähe, für den Fall, dass dieser Tag der letzte wäre – für einen von uns.
    Dann war es vorbei. Ich ließ ihre Hand los und sie drehte sich um und ging in Richtung Skuteviken. Einmal sah sie sich um und lächelte mir über die Schulter zu. Der grüne Samtmantel flatterte im scharfen Wind.
    Ich blieb stehen und sah ihr nach, bis sie verschwand. Sie drehte sich nicht mehr um.
    Es war ein merkwürdiges Gefühl, dort zu stehen und ihr hinterher zu starren. Ich konnte mich nicht losreißen. Es war, als sei es ein Teil von mir selbst, der mich dort auf dem Bürgersteig verließ, als würde ich nie wieder ganz derselbe sein. Als hätte das Leben – und alles andere auch – plötzlich einen neuen und beunruhigenden Sinn bekommen.
    Über mir schwebte eine einsame Krähe tief an den zwei mittelalterlichen Türmen der Mariakirche vorbei, als habe ein bleigraues Stück Dämmerung sich losgerissen und flattere vorüber, wie eine zufällige Seite einer zufälligen Zeitung, ein zufälliger Tag in einem alten Leben.

45
    Ich fuhr durch das, was einmal die Kommune Laksevåg gewesen war in Richtung der Stadtteile hinter dem Lyderhorn.
    Es war jetzt völlig dunkel und unmöglich zu sagen, ob Winter war, Frühling oder Herbst. Aber Laksevåg war ein Stadtteil, den ich mit dem Frühling verband. Durch Laksevåg waren wir mit dem Fahrrad gefahren, als ich ein Junge war, und damals war immer Frühling gewesen. Es waren die ersten langen Fahrradtouren mit frisch geölten Fahrrädern, die ersten spannenden Ausflüge, bevor es wirklich Sommer wurde und wir anderes zu tun bekamen. Der Frühling lag über Laksevåg, und wir radelten über Asphalt, der noch nass war von monatelangem Schneeregen, Schnee und Regen, durch eine Luft, die kalt und klar war von einem verspäteten Frost, unter einer Sonne, die noch nicht höher am Himmel stand, als dass sie mehr als einen goldenen Schimmer auf die nackten Jungennacken, die kurz geschnittenen Schöpfe warf. Wir froren an den Fingern.
    Später hatte ich immer das Gefühl von Frühling, wenn ich durch Laksevåg kam, oder von Ferien. Eine Postfiliale lässt mich an Postbankbücher und aufgespartes Feriengeld denken, ein Café lässt mich an diese Cafés denken, in die man auf einer jugendlichen Fahrradtour im Sørland kam, mit wässerigen Frikadellen, Brause in Wassergläsern und Fliegen auf den Tischen und im Fenster.
    Mein Gesicht schmerzte immer mehr, je näher ich dem Ziel kam. Es war, als bekämen die Schrammen neues Leben, als würde der Körper einen erneuten Besuch dort draußen, eine neue Begegnung mit hartem Asphalt, jugendlichen Fäusten und flinken Stiefeln verweigern.
    Das große Einkaufszentrum lag immer noch da und wartete auf den Take-off. Ich bog in Richtung der vier Blöcke ab und parkte vor dem zweiten. Zunächst blieb ich im Auto sitzen und sah mich um. Aber ich sah nichts. Die Schatten hatten keine Gesichter, die Dunkelheit hatte keine Finger – soweit ich sehen konnte.
    Ich stieg aus. Die Luft war klar und kalt, und ich hatte das Gefühl, dass es in der Nacht wieder Frost geben würde. Kleine Pfützen würden zufrieren und alte Menschen würden sich morgen früh den Oberschenkelhals brechen.
    Automatisch sah ich zur Wohnung von Wenche Andresen hinauf. Sie lag im Dunkeln. Dort war es schon Nacht.
    Aber das war nicht der Block, zu dem ich wollte. Ich betrat das Gebäude, in dem der Jugendclub lag, aber diesmal folgte ich nicht den Pfeilen in den Keller. Ich ging zu den Briefkästen. Gunnar Våge wohnte im zwölften Stock, stand da.
    Ich ging um die Ecke und zum Fahrstuhl. Einer wartete abfahrbereit. Ich trat ein, schloss die

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