Dein bis in den Tod
anderen Frauen, die man einmal getroffen, gekannt, geliebt hat, wegwischt. Vielleicht war es genau das, was auch Jonas Andresen geschehen war.
Auch?
Ich war unten angekommen und trat vor den Block.
Ich fühlte, dass ich mich etwas näherte: einer Erkenntnis, einer Gewissheit. Als hätte das Gespräch mit Solveig Manger etwas in mir befreit, als hätte ich erst jetzt das Gefühl, alle Figuren des Dramas wirklich zu kennen. Jonas und Solveig, die einander zehn Jahre zu spät begegnet waren. Wenche, die einfach irgendwo zwischen ihnen verschwand. Roar, der überhaupt nichts entscheiden konnte, mit dem nur Dinge geschahen, der ein Kind war, und unschuldig – wie alle Kinder. Die anderen, von denen ich noch nicht sicher wusste, ob sie sich im Lichtkegel dieser drei Erwachsenen und dem einen Kind bewegten: Reidar Manger, Richard Ljosne, Gunnar Våge, Solfrid Brede, Hildur Pedersen – und Joker.
Joker, mit dem ich noch eine Rechnung offen hatte. Joker, mit dem ich unbedingt sprechen musste, bevor ich mit irgendjemand anders sprach.
Ich ging zurück zum Auto und holte meine Taschenlampe. Dann ging ich am letzten Block vorbei und bog in das Waldstück ein, in dem die Hütte von Joker und seiner Gang versteckt lag. Vielleicht waren sie alle da oben. Vielleicht saßen sie dort und warteten, freuten sich auf eine neue Runde mit dem Willigen Veum, dem Punchingball aller fröhlichen Jungs.
Noch einmal stolperte ich durch die Dunkelheit zu der kläglichen Hütte hinauf. Es rauschte leicht in den Bäumen. Unten bei den Häusern startete ein Motorrad und verschwand. Irgendwo schrie eine Katze, stimmte ihre Fiedel für die Freierskämpfe der Nacht.
Die Hütte lag still und scheinbar verlassen zwischen den Bäumen. So hatte sie beim letzten Mal auch ausgesehen. Aber es war trotzdem jemand darin gewesen: Roar. Und als wir wieder herauskamen, war der Wald voller Leben.
Ich ging einen weiten Bogen um die Hütte, machte ein paar schnelle Abstecher zwischen die Bäume. Ich konnte niemanden sehen. Dann schaltete ich die Taschenlampe ein, ließ den Lichtstrahl über die Bäume, die Baumstämme, die Büsche flackern. Im Matsch um die Hütte herum waren Fußspuren zu erkennen, aber es war kein lebender Mensch zu sehen.
Ich trat an die Hüttenwand. Wieder spürte ich die schuppige Oberfläche der verwitterten Schalbretter. Reste von Zement und Beton wuchsen wie Warzen und Geschwüre an den Außenwänden; irgendwo stach ein Metallseil in die Luft.
Ich blieb stehen und horchte an der Türöffnung. Das einzige, was ich hörte, war das Pochen meines eigenen Blutes an den Schläfen, gegen das Trommelfell.
Ich streckte die eine Hand vorsichtig vor und zog den Vorhang zur Seite. Das Sackleinen verursachte keinen Laut. Alles war still.
Ich sah mich noch einmal um. Dann bewegte ich den Lichtstrahl langsam auf die Türöffnung zu, ließ ihn ins Innere wandern, über den festgetrampelten Erdboden mit den dreckigen Zeitungen.
Der Lichtstrahl fiel auf etwas. Ein paar Stiefel – mit Inhalt. Ich bewegte den Lichtstrahl schnell nach oben.
Joker saß da und wartete auf mich. Er saß mit dem Rücken an der Wand, die Beine auf dem Boden ausgestreckt. Seine Augen starrten genau auf die Öffnung in der Hüttenwand, als habe er lange auf mich gewartet.
Er saß da und grinste mich kalt an. Komisch war nur, dass er mit zwei Mündern grinste, und der untere Mund war kein Mund, sondern ein weiter, klaffender Schlitz quer über den Hals. Es war das kälteste Grinsen, das ich jemals gesehen hatte.
46
Er hatte geblutet, und das Blut war aus dem Schlitz im Hals hinuntergelaufen. Es war in einem geraden Streifen den Hals hinunter und in das Hemd gelaufen und hatte es befleckt. Es sah aus, als liefe das Blut aus dem Mund eines Dracula, nach einem tödlichen Biss. Aber dem Lächeln fehlten die Vampirzähne. Es war zahnlos und die Lippen waren so schmal wie mit einem Messer geschnitten. Es war ein schneller, tödlicher Stoß gewesen, und einer hatte gereicht. Er war nach hinten gegen die Wand gefallen und an ihr hinuntergerutscht. Eine der alten Zeitungen lag zusammengeknüllt unter seinen Stiefeln, ein Zeichen dafür, dass er gerutscht war.
Der obere Mund lächelte wirklich. Ein breites Grinsen, das seine Mäusezähne entblößte und ihn zum Wanderprediger machte. Aber er hatte seine letzte Weisung erhalten und stand vor seiner allerletzten Gemeinde. Es gingen keine Schiffe zurück, es gab keine Landungsstegs mehr.
Ich fror und wurde mir plötzlich des
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