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Dein bis in den Tod

Dein bis in den Tod

Titel: Dein bis in den Tod Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gunnar Staalesen
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gefährlich sein. Sie können …«
    »Ich kann auch ziemlich gefährlich sein«, sagte ich, »jedenfalls manchmal.« Dabei versuchte ich, so auszusehen, als könnte ich es wirklich. Dann ging ich.

9
    Wenn es auf der Rückseite des Lyderhorns dunkel ist, dann ist es dunkler als an irgendeinem anderen Ort, den ich kenne. Die steil aufragende Felswand scheint dem nächtlichen Dunkel eine doppelte Kraft zu geben, als sei der Berg selbst eine ganz konkrete Nacht.
    Ich blieb in einiger Entfernung von der Hütte stehen und lauschte. Ich hörte nichts, keinen Laut. Ich ließ den Blick von Baum zu Baum wandern, aber es fiel mir schwer, in dem sternenlosen, dumpfen Abenddunkel Konturen zu erkennen.
    Ein Wald konnte voller Leben sein und er konnte so tot sein, als sei er versteinert.
    Ich ging zur Hütte hinauf und blieb an der Wand stehen, unmittelbar unter der Öffnung mit dem Hühnerdraht. Sie war zu hoch, um hineinschauen zu können. Ich horchte. Noch immer kein Laut. Aber ich hatte das deutliche und unangenehme Gefühl, nicht allein zu sein. Noch einmal ließ ich den Blick über die Bäume um mich her gleiten: War das eine unnatürliche Verdickung an einem der Stämme? War das, was dort drüben herausragte, ein abgebrochener Ast oder ein vorgeschobener Kopf? Atmete da jemand im Dunkeln?
    Vorsichtig bewegte ich mich an der Hüttenwand entlang. Ich schaute um die Ecke. Die Hütte hatte keine Tür, aber vor der Türöffnung hing schweres Sackleinen. Man konnte nicht sehen, ob jemand im Inneren der Hütte war. Ich richtete mich auf und stellte mich direkt vor die Türöffnung. Mit der linken Hand zog ich das Sackleinen vorsichtig zur Seite und schaute hinein. Dort drinnen herrschte ein noch schwärzeres Dunkel als draußen, eine noch tiefere Stille. Oder erkannte ich dort drinnen eine schwache Bewegung? Auf dem Boden?
    Weil mir niemand durch die Türöffnung entgegenstürmte, gab es nur eine Möglichkeit, das herauszufinden. Ich beugte den Nacken und trat rasch durch die Öffnung – und dann gleich nach links, sodass ich mit dem Rücken zur Wand stand.
    Nichts geschah. Niemand sprang mich im Dunkeln an, niemand begegnete mir mit Fäusten oder Messern.
    Ich blieb stehen und atmete durch, während meine Augen sich an die Dunkelheit gewöhnen.
    Es war ein kleiner, viereckiger Raum. Auf dem Boden lagen Säcke, alte Zeitungen und ein paar leere Plastiktüten. Drüben unter der Öffnung stand eine leere Kiste. Ein Geruch von Bier, Schweiß und etwas Undefinierbarem, das an verspritzten Samen erinnerte, erfüllte den Raum.
    In der einen hinteren Ecke lag ein Bündel an der Wand. Es war Roar.
    Sie hatten ihm die Füße gefesselt, die Arme auf den Rücken gebunden und ihm ein schmutziges Taschentuch in den Mund gestopft. Sein Gesicht hatte rote Flecken. Seine Augen starrten mir entgegen. Auf seinen Wangen sah ich Streifen getrockneter Tränen. Als er mich erkannte, begannen neue Tränen aus seinen Augen zu kullern und funkelten hell. Sein Haar war zerzaust, seine Kleidung schmutzig. Davon abgesehen sah er unversehrt aus. Aber die äußeren Schäden waren in diesem Fall kaum die schlimmsten.
    Ich hockte mich vor ihm hin, klappte mein Taschenmesser auf und befreite ihn von den Fesseln. Als ich ihm das Taschentuch aus dem Mund nahm, erfüllte ein Laut, der halb Aufatmen, halb Schluchzen war, die Hütte. Ich sah, wie er versuchte, die Tränen zurückzuhalten, aber ich sah auch, dass es ihm nicht gelingen würde. Ich legte die Arme um ihn und drückte ihn an mich. So dämpfte ich sein Weinen an meiner Brust und versuchte, seinen Körper in meinen Armen ruhig zu halten. Er wurde von heftigen, fast krampfartigen Zuckungen geschüttelt, und es dauerte länger, ihn zu beruhigen als seine Mutter. Es gelang mir auch nicht, mich ganz auf ihn zu konzentrieren. Sein Weinen störte die Stille, und ich konnte nicht mehr sicher sein, ob es nur die Stille war, was ich hörte, oder Geräusche in der Nacht: Geräusche, die nicht hierher gehörten. Ich horchte so angespannt, dass ich Kopfschmerzen bekam, aber es war mir nicht möglich, neben dem Weinen etwas wahrzunehmen. Vielleicht waren wir allein; vielleicht waren sie nach Hause gegangen, um Kakao zu trinken und Mensch ärgere dich nicht zu spielen und das Räuberspiel war für heute vorbei.
    Ich flüsterte ihm ins Ohr: »Wir müssen los, Roar. Deine Mutter wartet auf uns.«
    Er nickte gegen meine Brust und schniefte ausgiebig.
    »Weißt du, wo die anderen sind?«
    Er schüttelte den Kopf. »Sie s

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