Dein bis in den Tod
nach diesen alten Sachen? Hast du nichts Besseres zu tun? Scher dich nach Hause und spiel mit deiner Eisenbahn oder so.«
»Du weißt, dass Johan ein ziemlicher Schrecken ist hier im Viertel? Dass die Leute zusammenzucken, wenn sie nur seinen Namen hören, und dass sie ihn – Joker nennen?«
Sie sah mich an, mit Augen wie aufgespannte Regenschirme. »Wen? Johan? Den kleinen Hänfling? Ich könnte ihn zwischen Daumen und Zeigefinger zerquetschen! Wenn sie vor dem Angst haben, dann haben sie wohl auch Angst, wenn abends die Sonne untergeht?«
»Er ist nicht allein. Er hat eine Gang, und sie sind ziemlich viele, und sie halten sich für cool. Manchmal.« Unwillkürlich betastete ich mein Gesicht, an den Stellen, wo sie kurz gemeint hatten, es mir beweisen zu müssen.
»Er bringt ein paar Kumpel mit nach Hause ab und zu. Sie sitzen in seinem Zimmer und trinken Bier und rauchen und spielen grässliche Kassetten. Aber ich kümmere mich nie um sie. So lange sie keine Weiber dabei haben.« Sie warf mir einen kurzen, entrüsteten Blick zu. »So was will ich hier nicht haben – hier in meinem Haus.«
Ich sah mich in ihrem Haus um. An der Wand gegenüber, direkt über ihrem Kopf, hing ein Bild. Es hing etwas schief und war eine Art Gemälde von einer Art Boot irgendwo draußen auf einer Art Wasser. Aber es fehlten die Proportionen. Die Fichten auf der anderen Seite des Wassers waren höher als die im Vordergrund, und das Boot war so groß, dass es die ganze Wasserfläche ausfüllte.
Es erinnerte mich an Hildur Pedersen selbst: ein überdimensionales Boot auf einem See, der viel zu klein für sie war. Eine mächtige Frau in einem viel zu kleinen Leben, einem Leben, das nur ein paar flüchtige Enttäuschungen beinhaltete, eine Postüberweisung jeden Monat und ein paar alte, gespenstische Erinnerungen. Gesichter ohne Namen, Gesichter, die nichts anderes hinterlassen hatten als leere Schnapsflaschen und die verschwanden, wenn das Fest vorbei war.
Ich betrachtete ihr Gesicht. Tief verborgen lauerte ein junges Mädchen von vor zwanzig, dreißig Jahren. Ein kleines Mädchen, das eine Gasse auf und ab gelaufen war, das mit den anderen Mädchen aus der Gasse Bälle gegen grüne Holzwände geworfen hatte, das irgendwo hinter einem Bretterzaun ›Küss den Frosch‹ gespielt hatte – das aber später allzu viele Frösche geküsst hatte und selten den richtigen. Aber irgendwo tief verborgen lauerte Hildur noch. Wenn nur der Schnaps sie nicht weggespült hätte, an einen fremden Strand weit, weit weg – an einen Ort, wo man sie nie mehr finden würde. Hildur Pedersen aus Bergen.
Aus irgendeinem Grund dachte ich an eine Jahreszahl. 1946.
1946, da hatte irgendwie alles angefangen, für uns alle. Der Krieg war vorbei, und die Stadt lag noch ein paar Jahre wie gelähmt, bis sie in den fünfziger Jahren erneut aus der Asche stieg, ihre viereckigen Wohnblöcke über ihrem krummen Rücken zum Himmel erhob und die Vergangenheit hinter sich ließ. Die Amerikadampfer starben aus, und man legte den Flughafen Flesland an. Die Laksevågfähre wurde eingestellt und eine Brücke über den Puddefjord gebaut. Sie gruben Löcher durch die Berge in der Umgebung und legten Siedlungen an, wo früher Höfe, Wälder und Moore gewesen waren.
Aber 1946 – da gab es das alles noch nicht. Da war noch alles wie in den dreißiger Jahren. Die den Krieg als Erwachsene erlebt hatten, spuckten in die Hände und begannen von vorn. Die Alten starben, wie die alten Häuser, in denen sie lebten. Und wir ganz, ganz jungen – vor uns lag eine Welt voller Möglichkeiten.
Hildur Pedersen war 1946 sicher voll erblüht gewesen, eine schöne junge Frau, vielleicht ein wenig kräftig, aber nicht zu füllig. Eine Frau mit vollen Brüsten und breiten Hüften, locker die Gasse hinunterschwingend, mit einem braunen Netz voller Milchflaschen und einem Lächeln für alle, die es haben wollten.
Joker war noch nicht geboren, und Varg Veum … Er war ein Junge von vier Jahren, mit einer Mutter, die noch keinen Krebs hatte, und einem Vater, der noch Straßenbahnschaffner auf der Linie nach Minde war. Aber auch diese Straßenbahn fuhr nicht mehr und auch dieser Vater war zu Staub geworden, wie so viele Väter vor ihm. Aber er war mein Vater und wenn ich die Augen schließe, kann ich ihn noch vor mir sehen: klein und gedrungen, noch immer das Bäuerliche im Leibe, das Dorf, das er noch nicht zwei Jahre alt mit der Fähre in Richtung Stadt verlassen hatte. Wenn ich die Augen
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