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Dein bis in den Tod

Dein bis in den Tod

Titel: Dein bis in den Tod Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gunnar Staalesen
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schließe, kann ich ihn noch lächeln sehen, das verkniffene, barsche Lächeln, das er immer für die seltenen, schönen Augenblicke aufhob, wenn wir ganz allein waren, als meine Mutter noch keinen Krebs hatte.
    Wenn Johan Pedersen seine Augen schloss, sah er nichts. Und es gab keinen Joker in seinem Kartenspiel: keinen Vater, der plötzlich zwischen Buben und Damen auftauchte, die Schaffnertasche über der Schulter und die Mütze etwas schief und sagte: »Hallihallo, ist jemand zu Hause?«
    1946: vier Ziffern, die eine längst gestorbene Vergangenheit beinhalten, Straßen, die es nicht mehr gibt und Häuser, die zusammengefallen sind, Häuser, die abgerissen wurden, Fähren, die nicht mehr fahren und Straßenbahnen, die zerlegt wurden …
    1946 – als alles anfing.
    »Wo warst du 1946?«, fragte ich Hildur Pedersen.
    »1946? Warum fragst du? Bist du bescheuert? Wer zum Teufel erinnert sich noch daran, was 1946 war? Ich weiß verdammt noch mal nicht mal mehr, wo ich vorgestern war. Du fragst zu viel, Veum. Kannst du nicht mal einen Moment die Schnauze halten?«
    Ich nickte zustimmend.
    Dennoch hatte ich keine Lust zu gehen. Ich hatte Lust, hier sitzen zu bleiben, bei Hildur Pedersen, und Wodka pur zu trinken – stumm –, bis die Beine unter mir nachgaben und ich mich mit den Armen zur Tür ziehen musste, raus auf den Balkon und die ganzen Treppen bis zum Auto hinunter.
    Ich hatte keine Lust zu gehen. Aber schließlich ging ich doch. Als Hildur Pedersen der Kopf auf die Schulter sackte, ging ich. Ich stand vorsichtig auf, nahm das Glas aus ihrer dicken Faust und stellte es neben die Flasche. Ich schraubte die Flasche zu, denn es waren noch einige Tropfen am Boden übrig – etwas zum Wachwerden, wenn sie aufwachte – wenn sie wieder aufwachte.
    Dann schlich ich mich langsam aus ihrem Leben. Für eine Weile.
     
    Draußen vor dem Block stieß ich wieder auf Gunnar Våge. Er kam auf mich zu und packte mich hart an der Schulter. »Wo bist du gewesen, Veum?«, zischte er.
    »Warum fragst du?«, fragte ich zurück.
    »Ich hab gesagt, du sollst – Johan in Ruhe lassen. Lass sie in Frieden, Veum, ihn und seine Mutter. Mach es nicht noch schlimmer, als es ist. Du weißt nicht, in was du da reinplatzt. Du kannst mehr kaputt machen, als du …«
    »Wo kann ich reinplatzen? Was kann ich kaputt machen, das nicht schon kaputt ist?«
    »Du kapierst verdammt noch mal überhaupt nichts. Du bist kalt wie – wie …«
    »Wie?«, fragte ich.
    »Zieh Leine, Veum. Zieh verdammt noch mal endlich Leine!«
    Ich starrte in sein aufgeregtes Gesicht und fragte: »Und wo warst du 1946, Våge?«
    Ich ging an ihm vorbei, setzte mich in mein Auto und fuhr davon, ohne mich umzusehen. Sie mochten mich nicht da draußen. Aus irgendeinem Grund mochten sie mich nicht.

16
    Ich schloss mein Büro auf und machte das Licht an. Obwohl die Sonne gerade erst ihren höchsten Punkt über dem Løvstakken überschritten hatte, irgendwo hinter der grauen Wolkendecke, war es draußen dämmrig und düster. Wie das Dämmerlicht in einem Kinosaal, bevor die Vorstellung beginnt. Vielleicht war die Sonne gerade dabei zu verlöschen. Vielleicht würden wir am nächsten Morgen zu einem ewigen Dunkel erwachen, einer ewigen Sternennacht, einer Flucht in Frost und Tod und ewige Raureifgründe.
    Mein Büro war wie ein Museum. Ein Museum, das keiner mehr besuchte, in dem ich aber aus irgendeinem Grunde Wachmann war. Ich setzte mich hinter den Schreibtisch und öffnete die dritte Schublade von oben. Ganz hinten links lag die Büroflasche, rund und lauwarm.
    Ich zog sie heraus und las den ganzen Text auf dem fröhlichen Etikett, als sei es das erste Mal. Das Wasser des Lebens. Das Blut der Einsamen. Trost für müde Wölfe.
    Ich schraubte den Deckel ab und setzte die Flasche an den Mund. Der klare, starke Aquavit spülte den dumpfen Nachgeschmack von Hildur Pedersens Wodka weg.
    Ich fragte mich, was ich tun sollte, und ob ich etwas zu tun hatte. Ich dachte an die Menschen, denen ich in den letzten Tagen begegnet war. Roar. Wenche Andresen. Joker und seiner Gang. Gunnar Våge und Hildur Pedersen. Wieder Wenche Andresen – und der Mann in der Marineuniform, Richard Ljosne. Und Roar …
    Ich dachte an Thomas. Vielleicht sollte ich ihn anrufen, hören, wie es ihm ging, fragen, ob er manchmal an seinen Vater dachte. Ich könnte anrufen und fragen, ob er in mein Büro kommen und mir Gesellschaft leisten wollte. Ich könnte ihm vorlesen – wie ich es früher getan hatte (an

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