Dein bis in den Tod
auch nicht das Recht, uns keine Gedanken zu machen. Und das Ganze sieht sozusagen ziemlich – offensichtlich aus. Aber es ist klar: Wir werden eine breite Ermittlung in Gang setzen. Sie können ganz ruhig sein.«
Ihr Blick suchte meinen. Ich hatte ihr schon einmal geholfen, aber jetzt konnte ich es nicht, jedenfalls noch nicht.
Hamre sagte: »Aber Roar …«
Sie unterbrach ihn: »Varg! Er mochte dich so gern. Nachdem du hier warst – das erste Mal –, hat er von fast nichts anderem geredet – als von dir. Du – kannst du ihn nicht zu Sissel – zu meiner Schwester fahren, nach – nach Øistese?«
Hamre sah mich unschlüssig an.
Ich nickte. »Das kann ich machen, wenn ich darf. Er – er kann heute Nacht bei mir schlafen, und dann fahre ich ihn morgen hin. Wenn die Polizei sie davon unterrichtet, was passiert ist.«
Ich sah Hamre an, und er nickte. »Das machen wir. Ich gehe davon aus, dass es in Ordnung ist … so. Wenn der Junge nichts dagegen hat.« Er sah zu Wenche Andresen. »Wollen Sie mit ihm sprechen?«
Sie sagte heftig: »Nein, o nein! Das schaffe ich nicht, nicht jetzt. Ich fange nur an zu weinen. Ich – nein.« Sie wandte sich an mich. »Du gehst raus. Kannst du ihn nicht mitnehmen, jetzt gleich, bevor ich rauskomme?«
Ich nickte ernst. »Klar.«
»Und …«
»Ja?«
»Ich … Grüß ihn einfach – von mir. Sag, dass – sag, dass alles gut wird – dass ich nur – kurz weg bin, dass ich ihm alles erkläre, wenn ich – wiederkomme.« Tränen schossen ihr wieder aus den Augen.
Hamre setzte hinzu: »Und melde dich auch bei uns, Veum. Wir werden deine Aussage noch einmal brauchen, in formellerer Form.«
»Natürlich«, sagte ich. »Ich melde mich, sobald ich – zurück bin.«
Ich stand auf und blieb stehen. Am liebsten wäre ich zu Wenche Andresen gegangen, hätte meine Arme um sie gelegt, sie an mich gedrückt und gesagt: Alles wird gut, meine Kleine. Alles wird gut.
Aber ich konnte es nicht tun. Ich streckte ihr meine Hand entgegen, sie ergriff sie, vorsichtig und zart. Ich sagte: »Wir sprechen uns später. Ich werde dir erzählen, wie es mit Roar gegangen ist.«
Sie nickte stumm, und ich verließ sie dort – mit den vier Polizisten und der stummen Leiche. Ich verließ sie dort – mit einer schweren Vergangenheit und einer unsicheren Zukunft. Mit der Erinnerung an einen Kuss und der Erinnerung an eine Hand. Das war alles, was ich ihr zu geben hatte, der einzige Trost, den ich ihr bieten konnte.
Draußen auf dem Flur hatten sie ein weißes Laken neben Jonas Andresen gelegt und ich wusste aus Erfahrung, dass sie nun auf das Klarsignal von Jakob E. Hamre warteten. Dann würden sie ihn auf eine Bahre legen, festbinden und zum Leichenschauhaus fahren. Sie mussten ihn unbedingt richtig festbinden – damit er nicht versuchte, sich loszureißen.
Ich verließ die Wohnung, um Roar zu treffen.
26
Er stand draußen auf dem Balkon, ganz hinten am Fahrstuhlschacht, zusammen mit dem anderen Wachtmeister, einem nicht mehr ganz jungen Kerl mit runden Backen und einem leicht geröteten Gesicht. Er sah nett aus.
Roar machte einen verlorenen Eindruck. Seine Haut war blass und durchsichtig, und das helle Haar wirkte matt und leblos. Seine Augen waren groß und ängstlich, und es war offensichtlich, dass ihm niemand erzählt hatte, was geschehen war. Das war wahrscheinlich das Schlimmste von allem.
Ich ging zu ihm und legte meine Hand auf seine Schulter. Meine Finger glitten in seinen Nacken hinauf und zausten in seinen Haaren. »Willst du mit mir kommen – Roar?«, fragte ich, und meine Stimme klang wie die eines Fremden, unklar und grob. Ich räusperte mich. »Hast du Lust?«
Er sah fragend zu mir auf, als würde er mich nicht wiedererkennen. Dann sah ich, wie sich seine Augen wie zuvor die seiner Mutter mit Tränen füllten. Er begann lautlos zu weinen. Die Tränen liefen ihm über die Wangen, und er tat nichts, um sie aufzuhalten oder um zu verbergen, dass er weinte. »Ist Mama tot?«, fragte er.
Ich hockte mich vor ihn hin. »Nein nein. Es geht ihr – gut. Ich soll dich grüßen. Sie war es, die meinte – dass du mit mir kommen solltest. Sie ist nur ein bisschen – beschäftigt. Und das wird ein paar Tage dauern.« Oder ein paar Wochen – oder ein paar Jahre. Je nachdem. »Morgen fahre ich dich nach Øistese, zu Tante Sissel. Du wirst eine Weile bei ihr wohnen, bis deine Mutter wieder – da ist.«
Es war zu schwer, ihm dies zu erklären, und es war Jahre her, dass ich mit einem
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