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Dein bis in den Tod

Dein bis in den Tod

Titel: Dein bis in den Tod Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gunnar Staalesen
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Kind über so ernste Dinge gesprochen hatte. Aber ich fürchtete, er würde nicht mehr sehr lange Kind bleiben, sondern früh erwachsen werden, abrupt und brutal.
    Ich richtete mich auf, nahm seine Hand und führte ihn den Balkon entlang, durch das Treppenhaus, auf den Balkon an der gegenüberliegenden Seite, und von dort aus die ganzen Treppen hinunter, aus dem Haus, zum Auto und auf den Beifahrersitz.
    Dort schnallte ich ihn an, dann stieg ich selbst ein und fuhr los. Keiner von uns sagte ein Wort.
     
    Wir saßen in der Küche. Die Dunkelheit hatte sich draußen in die Gasse gedrängt, hatte die Häuser zur Seite geschubst, um die Stadt mit Nacht zu füllen, hatte dem Tag einen Stein um den Bauch gebunden und ihn ins Meer geworfen, hatte uns alle in unsere viereckigen Lichtzonen eingesperrt, hinter unseren sicheren Fenstern, an unsere beruhigenden Küchentische.
    Wir hatten gegessen. Ich hatte Eier und Speck gebraten, er hatte Milch bekommen, und ich hatte Tee getrunken. Wir hatten über alles andere geredet, nur nicht über das, was uns durch den Kopf ging.
    Er hatte mir von seiner Schule erzählt, von seiner Klasse, von seinen Schulkameraden und Lehrern und von einem Mädchen, das Lisbeth hieß und lange, helle Zöpfe hatte und einen Hund namens Arnold.
    Ich hatte ihm von damals erzählt, als ich ein kleiner Junge war und die Ruinengrundstücke nach dem Krieg noch nicht wieder bebaut waren. Ich hatte ihm von den Hüttendörfern erzählt und von den Kriegen, die wir ausgefochten hatten, und von Gangs, die genauso brutal waren wie die von Joker, die wir aber mit der stoischen Ruhe niedergekämpft hatten, die der zeitliche Abstand solchen Erinnerungen immer verleiht. Vergessen waren die Male, wo wir mit blutenden Nasen, aufgerissenen Knien und Löchern von scharfen Steinen im Kopf nach Hause gekommen waren. Woran wir uns erinnerten, war das eine Mal, wo wir so viele waren, dass wir die Gegner in die Flucht geschlagen, sie in ihre Straße und durch den Park gejagt hatten, verfolgt von einem Wolkenbruch von Steinen, Bretterstücken und leeren Blechdosen: von allem, was wir zu fassen bekamen, allem, womit man werfen konnte.
    Danach gingen wir ins Wohnzimmer, schalteten den Fernseher ein und sahen uns das Ende der Nachrichten an, wo ein Mann mit Pferdegesicht uns erzählte, dass es am nächsten Tag Regen und Sturm und Schnee auf den Bergspitzen geben würde. Ich fragte, ob er schlafen wolle.
    Er nickte.
    Ich machte ihm mein Bett zurecht und bereitete mich selbst auf eine Nacht auf dem Fußboden vor. Oder auf dem Sofa. Der Fußboden war etwas geräumiger.
    Ich fand eine frische Zahnbürste für ihn, und er putzte seine Zähne. Er durfte meine Seife und mein Handtuch benutzen, und er wusch sich selbst. Dann ging er schlafen.
    Ich machte das Licht aus, blieb in der Türöffnung stehen und betrachtete ihn. »Gute Nacht, Roar.«
    »Gute Nacht.«
    Ich selbst blieb noch wach und starrte blind auf den flimmernden Fernseher, mit einem toten Aquavit in der einen und nichts in der anderen Hand.
    Die Bilder, die vorbeisausten, waren ohne Inhalt und bedeuteten nichts. Sogar die schimmernde Flüssigkeit in dem schimmernden Glas war bedeutungslos. Wenn Menschen zur falschen Zeit sterben, dann ist das so – dann empfindet man so.
    Gegen zehn Uhr klingelte das Telefon. Es war Hamre. Er sagte: »Morgen früh um elf im Untersuchungsgericht. Wir werden beantragen, sie für drei Wochen in Haft zu nehmen. Mit Brief- und Besuchsverbot. Ich wollte dir das nur sagen.«
    »Brief- und Besuchsverbot? Ist es so ernst?«
    »Sieht so aus.«
    »Hat sie – wer ist ihr Anwalt?«
    »Smith.«
    »Der gute alte Smitti?«
    »Genau. Der gute alte Smitti. Der beste Paragrafenreiter, den sie bekommen konnte. Das ist immerhin etwas. Für sie, meine ich.«
    Eine lange, dunkle Pause, die sich anfühlte wie ein Sog hinaus ins Telefonnetz. Dann fragte er: »Wie geht es dem Jungen?«
    »Er schläft«, sagte ich.
    »Tja. Du fährst morgen mit ihm raus?«
    »Ja.«
    »Melde dich, wenn du wieder zurück bist.«
    »Keine Sorge. Wir sehen uns bestimmt wieder.«
    »Daran zweifle ich nicht. Gute Nacht, Veum.«
    »Gute Nacht.«
    Ich saß da, mit dem Hörer in der einen Hand und dem Aquavit in der anderen. Dann legte ich den Hörer auf, leerte das Glas in einem Zug und ging schlafen. Auf dem Boden.

27
    Ich wachte früh auf und konnte nicht mehr schlafen. In mir gab es zu viele namenlose Ungeheuer, die zwischen hohen, schwarzen und blattlosen Baumstämmen umherschlichen und

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