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Dein bis in den Tod

Dein bis in den Tod

Titel: Dein bis in den Tod Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gunnar Staalesen
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mir keine Ruhe ließen.
    Ich ließ Roar schlafen, so lange er wollte, und schlich leise in die Küche. Dort brach ich eines meiner strengsten Prinzipien und trank Kaffee auf leeren Magen. Ich braute mir einen tiefschwarzen und starrte dann in ihn wie in einen Brunnen ohne Boden. Doch in dem Brunnen war nichts zu lesen, in der Tasse war kein Bodensatz. Der lag in mir selbst: hinter den Augen, auf der Zunge und auf der Seele, wenn ich denn eine hatte.
    Ich versuchte, die Situation zu überdenken. Jonas Andresen war tot. Sein letzter Tag war vorbei, und zum ersten Mal seit etwas mehr als dreißig Jahren ging die Sonne über einer Halbkugel auf, auf der es keinen Jonas Andresen mehr gab. Für uns andere würde das keinen wesentlichen Unterschied machen. Für ihn bedeutete es alles. Er war hinübergegangen in das Reich der Rätselhaften, in die nebligen Täler und die verschleierten Wälder, er war hinaufgestiegen in die Bergreiche, die uns alle erwarteten, wenn unsere Tage erst einmal gezählt sind.
    Er war schnell und brutal gestorben. Ich selbst hatte ihn dem Tod entgegengehen sehen, aber den Todesaugenblick selbst hatte ich nicht mitbekommen. Ich hatte Wenche Andresen hinauflaufen sehen, nachdem es geschehen war, und ich hatte wieder einen Moment später Solfrid Brede aus dem Fahrstuhl steigen sehen. Und ich hatte Jonas Andresen wieder gesehen, aber zu spät – ein paar Minuten und eine Ewigkeit zu spät.
    Er war mit einem Messer, wie es Joker benutzte, erstochen worden. Aber Joker war es nicht gewesen, denn der hatte bei mir gestanden und mit mir geredet, als es geschah.
    Aber wer hatte es getan?
    Wieder sah ich Wenche Andresens verzagtes Gesicht vor mir, wie sie auf dem Sofa saß und die Hände um das Taschentuch gefaltet hatte, das ich ihr gegeben hatte. Ich sah ihre Augen und ihren Mund und – ich sah Jakob E. Hamre. Ich sah die Gewissheit in seinen Augen, die Sicherheit um seinen festen Mund, die Ruhe in seinem Gesicht.
    Wen gab es noch? Solveig Manger? Ihren Mann? Oder einen Fremden, ein Gesicht, das noch im Schatten lag, das noch nicht ins Licht getreten war? Es war Aufgabe der Polizei, das herauszufinden. Meine Aufgabe war in vieler Hinsicht leichter. Ich musste Roar nach Øistese fahren und mich selbst wieder nach Hause.
    Draußen begann zögernd ein neuer Tag. Es war ein neuer Tag im März, an dem unruhige Wolken über den Himmel zogen, mit ängstlichen Flecken blauen Himmels dazwischen. Eine tief stehende Sonne heftete ein paar vereinzelte, morgengoldene Strahlen an die Stadt, zwischen den Wolken hindurch, die aber schnell wieder abrissen. Es war der Frühling, der seine zaghaften Suchscheinwerfer über die Stadt sandte, um sich dann in mildere Gegenden zurückzuziehen, bessere Zeiten abwartend.
    Plötzlich stand Roar barfuß und in Unterwäsche in der Küchentür. »Bist du wach, Varg?«
    Die Straße von Bergen nach Hardanger ist eine, die die meisten Bergenser mit verbundenen Augen und zugestopften Ohren fahren könnten, jedenfalls bis Kvamskogen. Aber es hatte diesen Winter ein wenig Schnee gegeben, und ich fuhr die Strecke zum ersten Mal. Ich hatte meistens besseres zu tun gehabt als meine Skier hinauf nach Kvamskogen und wieder hinunterzufahren. Ich zog eine ordentliche Angeltour vor, in bewegtem Wasser oder im Aquavit.
    Skuggestranden entlang fährt man nach den Verbreiterungen der letzten Jahre auf einer Art Schnellstraße, und ein Großteil der Spannung beim Autofahren ist verschwunden. Früher wusste man nie, mit wem man um die nächste Ecke zusammenstoßen würde, jetzt konnte man auf zweihundert Meter Abstand genau zielen.
    Wie alle Jungs fuhr Roar gerne Auto, und ich konnte sehen, wie die Anspannung in seinem Gesicht langsam von Eifer und Redelust abgelöst wurde.
    »Du – du kannst sehr gut fahren, Varg.«
    »Findest du?«
    »Hast du – hast du schon oft Verbrecher gejagt? Mit dem Auto meine ich.«
    »Nicht so oft.« Nur jeden Freitag – bei Derrick.
    »Erzähl!«
    »Da gibt es nicht so viel zu erzählen. Es geht so schnell, dass du dich danach an gar nichts erinnern kannst. Du bist nur froh, dass du mit heiler Haut und lebendig davongekommen bist.«
    »Oh, aber …«
    Ein Stück vor Tysse liegt eine Cafeteria, genau in einer scharfen Kurve, und davor stehen immer ein paar Lastwagen. Von der Straße aus wirkt sie nicht besonders gemütlich, aber wenn man hineingeht und durch das ganze Haus hindurch, kommt man in einen Speisesaal, der an einen alten Wintergarten erinnert, mit großen

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