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Dein bis in den Tod

Dein bis in den Tod

Titel: Dein bis in den Tod Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gunnar Staalesen
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viereckigen Fenstern wie ein Schachbrett und einer wunderbaren, friedvollen Aussicht auf den See, im Sommer durch weiches Laub. Jetzt klammerten sich die Zweige nackt an das Pastellbild, aber man hatte dennoch das Gefühl, aus der grellen Wirklichkeit draußen auf der Straße in eine Märchenwelt zu kommen. Egal was man aß, blieb man sitzen und starrte durch das große Fenster. Davon bekam man einen steifen Nacken, aber man ging ruhiger hinaus und setzte sich wieder ans Steuer; das Bild gab einem inneren Frieden und machte die Hände sicherer, den Blick klarer. Man wurde ein besserer Fahrer.
    Dort hinein ging ich mit Roar, und wir aßen beide ein Krabbenbrot mit mehr Majonäse als Krabben, einem Salatblatt, das an ein gehäutetes Chamäleon erinnerte und einer Zitronenscheibe, die aussah, als sei sie als Weihnachtsbaum­ständer benutzt worden. Aber die Aussicht konnte niemand verderben, und man bezahlte keine Mehrwertsteuer dafür.
    Ich trank noch eine Tasse Kaffee, und Roar trank mit dem Strohhalm Limonade. Der Strohhalm war rot und die Limonade farblos. Das Tischtuch war grün, und die Aussicht …
    An einem anderen Tisch saßen drei Lastwagenfahrer. Sie hatten Stimmen wie Grubenschächte und Pranken wie Bagger. Ihre Gesichter waren breit und viereckig, wie ihre Wagen. Das war sicher typisch, eine Berufskrankheit, an der nicht einmal das Arbeitsschutzgesetz etwas ändern konnte. Ich hörte nicht, worüber sie sprachen, aber das spielte auch keine Rolle. Ich hörte ihre polternden Stimmen und das war genug. Sie gehörten dorthin, so wie sie in die Straßencafeterias in aller Welt gehörten. Die letzten unerbittlichen Cowboys. Triffst du einen von ihnen an einem dunklen Abend mitten in einer Kurve, in einem Auto, das kleiner ist als eine Lokomotive und zu weit auf der Gegenfahrbahn, dann bist du erledigt. Dann bist du nicht mehr wert als der Kilometer, den du schneller als achtzig fuhrst, die Minute, die du spartest, um rechtzeitig zu deinem eigenen unerwarteten Tod zu kommen, mitten in einer Kurve, in einem plötzlichen Sarg aus verkeiltem Metall und tropfendem Öl.
    Aber die Aussicht …
    Roar sog die Limonade durch ein rotes Plastikrohr aus der Flasche. Ich betrachtete sein Gesicht. Wem sah er ähnlich? Der Mutter? Dem Vater? Ich versuchte, sie mir vorzustellen: Wenche Andresen mit geschlossenen Augen und Gesicht und Mund plötzlich zum Kuss gehoben; und Jonas Andresen, mit Brille und einem Schnauzbart voller Bierschaum, die Hände um ein Glas gefaltet, und dann plötzlich – tot.
    Nein, Roar erinnerte mich an keinen von beiden. Er ähnelte nur sich selbst, einem kleinen Jungen in einer ausgewaschenen, blauen Daunenjacke und Jeans mit Flicken auf den Knien, der plötzlich in meinem Büro gestanden hatte, vor – wie lange war das her? Fünf, sechs Tage? Und er erinnerte mich auch noch immer an einen anderen Jungen, ein wenig jünger, der schon lange, lange nicht mehr in meinem Büro gestanden hatte.
    »Findest du das nicht schön?«, fragte ich und nickte zum Fenster. Er sah mich fragend an. »Was denn?«
    »Die Aussicht.«
    »Die Aussicht?«
    Nein, er war zu jung. Man sieht so etwas nicht, wenn man acht Jahre alt ist. Man muss zum ersten Mal verliebt gewesen sein, bevor man auf so etwas achtet.
    Wir tranken aus und fuhren weiter. Die Straßen durch Kvamskogen waren schneefrei, aber schwarz von Regen. Der Schnee lag wie ein dünner Schorf auf den Berghängen und man musste weit hinauf, um sicherzugehen, ordentliche Loipen zu haben.
    Die Straße war gut. Die legendären Waschbrettzeiten in Kvamskogen waren vorbei. Der Tourismus hatte sogar dieses Wegstück erreicht, obwohl der Ausbau umstritten gewesen war. Wir fuhren schnell an den dicht an dicht gebauten Hütten vorbei, die an eine unordentliche Vorstadt erinnerten und stürzten uns durch Tokagjelet, wo uns die Tunnel auffraßen und wieder ausspuckten.
    Die Landschaft flachte zum Hardangerfjord und Nordheimsund wieder ab, und plötzlich waren wir da. Es war ein Augenblick, wie man ihn jedes Jahr um diese Zeit erlebte. Plötzlich schien eine himmlische Hand die Wolkendecke zur Seite geschlagen und Sonne über die Landschaft geschüttet zu haben. Die Sonne schwappte die Berghänge hinunter, fing die Spuren von Grün des Vorjahres auf, vermischte sie mit dem Braun und dem schmutzigen Grau des Winters, und warf sie dir vor die Füße. Frühling.
    Frühling. Die Sonne fiel wie ein Netz über die Landschaft, die steilen Berghänge hinter uns, die Straße, die sich

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