Dein bis in den Tod
hübsch, mit blondem Haar, das eine Ahnung von Grau zeigte, und Augen und Lippen, die ziemlich lange keine Schminke gesehen hatten. Sie sagte: »Hier draußen steht ein Junge, zusammen mit Hansen. Er sagt, dass er hier wohnt …«
»Roar, Roar!« Wenche Andresen brach plötzlich in heftiges Weinen aus. »Was soll nur werden mit uns? Was soll nur werden?«
Hamre gab der Polizistin mit einem Nicken zu verstehen, sich um sie zu kümmern. Zu Jon Andersen sagte er: »Geh raus und sag, dass sie noch etwas warten müssen. Wir können den Jungen nicht hier reinlassen. Nicht vorbei an …«
Er sagte nicht, woran er Roar nicht vorbeilassen wollte, aber das war auch nicht nötig. Kein Junge von acht Jahren geht ungerührt an seinem verbluteten, toten Vater vorbei, der auf dem Boden im Flur liegt.
Wir saßen stumm und warteten, dass sich Wenche Andresen wieder beruhigte. Die Polizistin hatte ihr die Arme um die Schultern gelegt und versuchte, sie zu beruhigen.
Mir saß ein dumpfes, unangenehmes Gefühl im Nacken. Ich wusste, dass die Situation nicht besonders rosig aussah – weder für sie noch für Roar. Und aus Gründen, die ich kaum ahnte, betraf mich dies auch. Ich fühlte am ganzen Körper eine schwere Trauer. Diese Menschen waren mir nicht egal. Vor einer Woche ahnte ich noch nicht, dass es sie überhaupt gab. Jetzt bedeuteten sie mir etwas – jetzt betraf mich dieser Tote auch.
Da war Roar: Er war in mein Büro gekommen und hatte mich an einen anderen Jungen erinnert. Er hatte mit mir geredet, vertrauensvoll, und eine kleine Weile war ich sein Held gewesen. Vielleicht war ich es immer noch.
Da war Wenche Andresen: eine unglückliche Frau, eine, die aus der Spur geraten, eine junge Frau, die plötzlich allein war, die Zärtlichkeit und Fürsorge vermisste. Und – sie hatte mich geküsst. Oder umgekehrt. Ich hatte sie geküsst. Und die Erinnerung an ihre Lippen lag noch immer wie ein Hauch auf meinen Lippen.
Und da war Jonas Andresen: Ich hatte ihn gemocht. Er hatte sein ganzes Leben vor mir auf dem rotweiß karierten Tischtuch ausgebreitet, wie eine Landkarte. Er hatte mir die Seitenstraßen gezeigt und die heimlichen Pfade, und er hatte mir anvertraut, welchen Weg er nehmen wollte. Aber es war der falsche gewesen, er hatte direkt in den Abgrund geführt.
Und da waren noch andere, wie Joker, der mich erschreckt und wütend gemacht hatte, aber den ich auf eine merkwürdige Weise auch verstand oder zu verstehen glaubte. Da war seine Mutter, Hildur Pedersen, mit der ich gern geredet hatte, durch den Wodkanebel hindurch. Da war Gunnar Våge, mit dem ich nicht gern geredet hatte, der mir aber ein paar Dinge gesagt hatte, an die erinnert zu werden mir gut tat.
Und da war Solveig Manger – die noch rätselhafte Solveig Manger, die ich doch auf eine Weise zu kennen meinte, durch meine eigene, wortlose Begegnung mit ihr – und durch Jonas’ Geschichte von einer Verliebtheit, die ich nur allzu gut verstand.
Ich sah mich um. Deutlicher als zuvor sah ich die vielen Stickereien, von denen er berichtet hatte, von denen er sich umzingelt gefühlt hatte. Er hatte Recht gehabt. Es waren ziemlich viele. Im Grunde etwas zu viele.
Wenche Andresen hatte sich wieder beruhigt, und Jakob E. Hamre sagte mit seiner unerbittlichen, aber noch immer freundlichen Stimme: »Haben Sie Verwandte in der Stadt, Frau Andresen?«
Sie schüttelte den Kopf.
»Oder enge Freunde – jemanden, der sich um Roar kümmern kann für – eine Weile?«
Ich wusste, dass das kommen musste. Ich hatte darauf gewartet. Aber sie verstand noch nicht, was er gesagt hatte. Sie sagte: »Aber – kann ich nicht …«
Nur Hamre wagte es, ihr in die Augen zu sehen, als er sagte: »Ich fürchte, wir müssen Sie für ein paar Tage mit auf die Wache nehmen. Vorläufig nur als Zeugin, aber … Es tut mir Leid, dass ich das sagen muss: Es gibt zu starke Indizien, die gegen Sie sprechen, und wir können nicht riskieren, Sie frei herumlaufen zu lassen, bevor der Fall geklärt ist. Es geht um Unterschlagung von Beweisen und solche Dinge. Sie werden später eine ausführliche Erklärung erhalten, bevor Sie dem Untersuchungsrichter vorgestellt werden, morgen Vormittag. Und Sie dürfen selbstverständlich mit einem Anwalt sprechen. Haben Sie einen eigenen?«
Sie schüttelte den Kopf. »Nein. Nein … Bedeutet das – bin ich – verhaftet? Aber ihr glaubt doch nicht etwa …«
»Nein nein. Wir glauben gar nichts. Wir haben kein Recht etwas zu glauben. Aber wir haben
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