Dein bis in den Tod
auf den Fjord zuschlängelte, der blauweiße Fjordstreifen dort unten und der blaugraue Gebirgszug auf der gegenüberliegenden Seite, die verstreuten Höfe, die Rot, Weiß und Grau trugen, ein roter Bus, der uns schnaufend entgegenkam, eine alte Frau, die direkt an der Fahrbahn stehen blieb, neben einem Milchstativ, mit ihrem grauen Rock, der dunkelbraunen Strickjacke und dem schwarzen Tuch auf dem Kopf. Sie betrachtete uns aus einem Gesicht, das von der Zeit verschrumpelt und von den Jahren verwittert war. Es war Frühling, unbeschreiblicher Frühling.
Ich sagte nichts, um die Stimmung nicht zu stören, damit nicht das ganze Bild barst und in tausend Stücke zerfiele. Aber an der plötzlichen Stille merkte ich, dass Roar dasselbe empfunden hatte, dass er dieselbe plötzliche Sonne über der frühreifen Landschaft gesehen hatte, dass er dieselbe Veränderung in sich gespürt hatte. Dass er gespürt hatte, wie die Sonne ein neues Gewicht in die Waagschale der Zeit gelegt hatte, dass ein weiterer Winter dabei war, zu verebben und dass sich ein neuer Frühling erhob wie eine strudelnde Strömung unten im Fjord, draußen im Meer, oben im Himmel. Vielleicht musste man dafür doch nicht verliebt gewesen sein.
Die kurze Strecke auf der breiten Straße zwischen Nordheimsund und Øistese verlief an einem Fjord entlang, der wie blaues Silber neben uns schimmerte, der die Strahlen in Kaskaden zurückwarf und der ebenso froh war wie wir – über den Frühling.
So kamen wir nach Øistese, noch mit Winter im Blut, aber den Frühling schon wie eine Hoffnung im Blick, den Sommer wie eine Sehnsucht in der Haut – bis Winter und Tod uns plötzlich wieder einholten und wir uns daran erinnerten, weshalb wir hier waren.
28
Roars Onkel und Tante wohnten in einem großen, würfelförmigen Haus, das offensichtlich innen wie außen frisch renoviert war. Es lag hoch oben am Hang, umringt von austreibenden Obstbäumen und mit Aussicht auf ganz Øistese und den Fjord und das Fjell auf der anderen Seite. Es musste ein merkwürdiges Gefühl sein, wie am Rande einer Postkarte zu wohnen.
Die Tante kam ans Tor gelaufen, bevor wir aus dem Auto steigen konnten. Sie hatte uns erwartet. Sie umarmte Roar, warm und lange und ließ wieder Tränen in seine Augen steigen.
Dann richtete sie sich auf und gab mir die Hand. »Sissel Baugnes.«
»Veum.«
Sie war deutlich älter als ihre Schwester und ihr Gesicht war schärfer geschnitten. Sie war um die vierzig und versuchte nicht, das zu verbergen. Ihre Lippen waren schmal und ihr dunkelblondes Haar zeigte lange Streifen von Grau. Ihre Augen waren rot gerändert vom Weinen und in ihrem Gesicht hingen dunkle Schatten. Es waren die Schatten vieler schlafloser Stunden. Sie trug einen weiten blauen Rock und eine helle, eierschalenfarbene Baumwollbluse. Ihre Hände waren leicht gerötet und ihre nackten Arme hinauf sah man helle Sommersprossen. »Es war ein furchtbarer Schock – für uns alle.« Sie suchte in meinem Gesicht, als befürchtete sie, dort noch weitere Schocks, weitere grauenhafte Neuigkeiten lesen zu können.
Ich sagte: »Das war es. Für uns alle.«
»Entschuldigen Sie – ich denke nicht … Sie möchten vielleicht eine Tasse Kaffee, ein Stück Brot?«
Ich nahm das Angebot dankend an. Sie sah aus, als sei sie an einem Tag wie diesem genau die richtige zum Kaffeetrinken.
Sie setzte mich in eine Sofaecke in einem Wohnzimmer, das von einem friedlichen und durchschnittlichen Familienleben zeugte. Auf den zarten Teakregalen standen mehr Familienfotos als Bücher, und der Fernseher in der Ecke war ein älteres Modell. Das schwarze Reiseradio mit der glänzenden FM-Antenne war neuer. Aus ihm ertönten sanfte Vormittagsklänge, eine leichte Mischung aus südamerikanischen Rhythmen, westdeutschen Flötenarrangements und einem Engelschor aus Hamburger Plattenstudios – Flöte für die Ohren, Honig für die Seele. Wenn man nicht zu musikalische Ohren hatte oder eine zu schwarze Seele.
Ein rotbrauner Cockerspaniel kam auf uns zugeschossen und sprang wild an Roar hoch, der auf die Knie fiel und sich das Gesicht ablecken ließ. »Passopp!«, sagte er. »Hallo, Passopp!« Anders konnte ein Hund in dieser Gegend auch nicht heißen.
Sie kam mit belegten Broten auf einem länglichen Zinnteller zurück und goss schwarzen Kaffee in solide kleine Tassen mit rotem Blumenmuster.
»Die Mädchen sind in der Schule«, sagte sie, um über alltägliche Dinge zu reden.
»Wie alt sind sie?«, fragte
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