Dein Blick so kalt
gesucht sein. Ich finde es beeindruckend, wie sie es geschafft hat, einen Praktikumsplatz zu ergattern, und ich bin sicher, dass es ihr auch gelingen wird, die Lehrstelle zu bekommen. Martina, kannst du dich denn nicht erinnern, wie unglücklich du damals warst, als unsere Eltern dich unter Druck gesetzt haben. Du hast doch auch dafür gekämpft, den Beruf ergreifen zu dürfen, den du wolltest. Du müsstest Lou doch am besten von uns allen verstehen.«
Mam sah hoch. Ihre Gesichtszüge waren weicher geworden. »Das tue ich doch. Es ist ja weniger der Beruf, der mir Sorgen macht… Lou müsste nach München ziehen. In die Großstadt. Das ist ein gefährliches Pflaster für ein junges Mädchen. Ich habe einfach Angst, dass ihr etwas zustößt, dass sie die falschen Leute kennenlernt und unter die Räder kommt. Überall lauern Gefahren. Wer kümmert sich denn um Lou, wenn es Probleme gibt? Und außerdem, wo soll sie wohnen? Wir können es uns nicht leisten, acht Wochen Hotel oder eine Pension zu bezahlen. Nicht, solange wir noch das Haus abbezahlen. Und eine Wohnung oder ein WG-Zimmer wird sie für acht Wochen nicht bekommen. Das muss man realistisch sehen.«
Tante Ute wischte sich den Mund ab und legte die Serviette beiseite. »Eine der Wohnungen, die ich in München besitze, ist gerade frei geworden. Ein schnuckeliges Einzimmer-Appartement. Ich stelle es Lou kostenlos für die Zeit des Praktikums zur Verfügung. Einzige Bedingung: Als Gegenleistung streichst du die Wände. Die haben es dringend nötig. Material stelle ich. Einverstanden?«
Wow! Wahnsinn! Lou wurde ganz hibbelig vor Aufregung. Die Erfüllung ihres Traums rückte in greifbare Nähe. »Ja. Klar. Mache ich. Gar keine Frage.« Sie strahlte Tante Ute an, die sich aber wieder an ihre Eltern wandte. »Achim wohnt im selben Haus. Er kann sich um Lou kümmern. Ich habe schon mit ihm gesprochen. Er ist einverstanden und wird die Rolle des Babysitters übernehmen.« Bei diesen Worten zwinkerte Tante Ute Lou zu. »Anscheinend sieht er immer noch das kleine Mädchen in dir. Er wird überrascht sein, eine so hübsche junge Frau anzutreffen.«
Lou rutschte unruhig auf dem Stuhl hin und her. »Mam. Pa. Bitte. Ihr müsst euch keine Sorgen machen. Jetzt ist doch alles geregelt. Und in zwei Monaten bin ich wieder da.«
»Oder auch nicht. Du wirst die Lehrstelle schon bekommen. So hartnäckig, wie du bist.« War das tatsächlich ein Lächeln auf ihrem Gesicht? Lou wäre ihrer Mam am liebsten um den Hals gefallen.
Ihr Pa sah verdutzt in die Runde. »Dann muss ich mich wohl geschlagen geben. Mir gefällt das trotzdem nicht.«
Zeitungsmeldung
Ermordete Schülerin in München beigesetzt
Rund 150 Menschen haben auf dem Waldfriedhof in München Abschied von der ermordeten Gymnasiastin Daniela Schneider genommen. Die Beisetzung fand im engsten Familien- und Freundeskreis statt.
München – Die Familie der 17-jährigen Gymnasiastin hatte sich gewünscht, in aller Stille Abschied nehmen zu können. Die Stadtverwaltung folgte diesem Wunsch und ließ den Friedhof für die Zeit der Trauerfeier sperren.
Bereits am Vortag gab es eine Gedenkfeier in der Aula des Paula-Modersohn-Gymnasiums, an der mehrere Hundert Menschen teilnahmen. Freunde, Mitschüler, Lehrer, Nachbarn und Mitglieder der Tanzgruppe, der Daniela seit frühester Kindheit angehörte, gedachten Danielas. In bewegenden Ansprachen wurde sie als selbstbewusstes und lebensfrohes junges Mädchen beschrieben, das stets ein offenes Ohr für die Sorgen und Nöte anderer hatte. Ihr Klassenlehrer, Markus Tenner, sagte während der Feier: »Wir stehen völlig fassungslos, hilflos und verzweifelt vor dieser sinnlosen Tat und müssen nun von Daniela Abschied nehmen, in dem Wissen, dass ihr Mörder noch frei ist.«
In der Tat scheinen die Ermittlungen nicht voranzugehen. Kriminalhauptkommissar Josef Mertens hüllt sich weiter in Schweigen. Von der Staatsanwaltschaft München und der Pressestelle des Polizeipräsidiums sind ebenfalls keine Informationen über Fortschritte bei der Suche nach Danielas Mörder zu erhalten. Wird man ihn je fassen?
10
Meistens nahm ihre Mam die Zeitung mit ins Büro. Doch heute lag sie auf dem Tisch, als Lou runterkam. Natürlich war der Artikel über die Beisetzung des ermordeten Mädchens nicht zufällig aufgeschlagen, das kapierte Lou sofort. Mam, die nie aus Straubing herausgekommen war, machte sich Sorgen und hoffte offenbar, Lou würde bei der Lektüre dieses Artikels den Mut verlieren
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