Dein Blick so kalt
Und ausgerechnet ihn hatte sie für eine halbe Stunde allein in ihrer Wohnung gelassen!
41
Das verschwundene und wieder aufgetauchte T-Shirt! Vielleicht war das ja gar nicht Julian gewesen. Vielleicht war das zerschnittene Shirt wirklich ihres und der Grottenolm hatte es aus ihrer Wohnung geklaut, während sie ihn allein gelassen hatte. Oder er hatte einen Schlüssel… klar… Sohn der Hausmeisterin. Die hatte sicher Schlüssel für alle Wohnungen. Halt! Stopp! Tante Ute hatte gesagt und Onkel Achim hatte das beim Essen bestätigt, dass es nur zwei Schlüssel für die Wohnung gab. Also hatte die Hausmeisterin keinen. Doch konnte man da wirklich sicher sein? Eigentlich nicht. Aber das ließ sich testen. Lou zog das Handy hervor und wählte die Nummer von Elvira Pagel. Nach dem zweiten Läuten ging sie ran. »Hallo Frau Pagel, Lou Meerbusch hier.«
»Ja, was gibt es?«
»Ich habe meinen Wohnungsschlüssel irgendwo liegen lassen. Vermutlich in der Arbeit. Können Sie mir schnell aufsperren? Ich muss dringend was holen.«
»Tut mir leid.« Sie seufzte und es klang echt. »Ich habe keine Schlüssel für die Wohnungen. Wäre ja noch schöner, wenn Hausmeister überall reinkönnten. Die Nummer von einem Schlüsseldienst, mit dem wir Sonderkonditionen vereinbart haben, könnte ich dir geben. Du bist ja nicht die Erste, der das passiert.«
»Das ist sicher teuer. Da fahre ich wohl besser in die Agentur und hole ihn.« Lou verabschiedete sich und legte auf. Doch die Vorstellung, dass vielleicht doch jemand in der Wohnung gewesen war, nagte weiter an ihr. Vielleicht ging hier jemand ein und aus, wenn sie nicht da war. Das war ein total beschissenes Gefühl, auf das sie gut verzichten konnte. Okay, jetzt war es so weit. Sie würde das Schloss auswechseln. Es war kurz vor sieben. Die Läden hatten bis acht auf. Lou fand eine Eisenwarenhandlung ganz in der Nähe. Bevor sie losfuhr, rief sie an und vergewisserte sich, dass sie dort tatsächlich ein Schloss für eine Wohnungstür kaufen konnte. Mit dem Rad waren es nur zehn Minuten. Doch sie brauchte ein wenig länger, da sie einen Umweg machen musste, um Geld aus dem Automaten zu holen. Großartige Beratung benötigte Lou nicht. Sie kaufte einfach das günstigste Schloss. Knapp fünfzig Euro musste sie dafür hinblättern. Kurz vor acht war sie wieder daheim, suchte auf YouTube nach einem Video, wie man so einen Profilzylinder einbaute und stellte fest, dass das total einfach war. Man brauchte nur einen Schraubenzieher, dann war das in fünf Minuten erledigt.
Lou rief Lysander an, und wie immer, wenn sie an ihn dachte oder mit ihm sprach, fühlte sie sich plötzlich leicht und sorgenfrei. »Hi Lou«, meldete er sich. »Gedankenübertragung. Ich habe grad an dich gedacht. Wollen wir uns heute Abend treffen?«
»Klar. Ich weiß auch schon, was wir machen.«
»Nämlich?«
»Ein neues Schloss in meine Wohnungstür einbauen. Dauert nicht lang. Kannst du einen Schraubenzieher mitbringen? Ich habe keinen.«
Einen Moment war es still am anderen Ende. »Es war also doch jemand in deiner Wohnung? Fehlt noch was, außer dem Shirt?«
»Nee, eher umgekehrt. Das Shirt ist wieder da.«
Das hatte sie ihm noch gar nicht erzählt. Der Abend gestern war so schön gewesen. Sie hatte ihn nicht verderben wollen und außerdem hatte Onkel Achim das ja mit Julian geklärt. Jedenfalls hatte Lou angenommen, dass das Thema erledigt sei. »Jemand hat es mir in die Agentur geschickt. Und ich habe wieder so eine komische Mail bekommen. Mit einem neuen Schloss würde ich mich besser fühlen. Ich habe schon eins besorgt. Wir müssen es nur noch einbauen.« Lysander versprach, sofort zu kommen. Seine Stimme klang besorgt.
Als es eine halbe Stunde später an ihrer Wohnungstür klingelte, zuckte Lou dennoch zusammen. Sie fühlte sich wie auf schwankendem Grund. Diese Mails, das Shirt. Jemand wollte sie fertigmachen und das Schlimme war, dass es ihm gelang. Der erste bodenlose Schreck war zwar vorbei, und seit Lou sich entschlossen hatte, das Schloss zu wechseln, fühlte sie sich auch ein wenig besser. Denn sie war keine, die tatenlos zusah, wie jemand in ihr Leben pfuschte. Sie war schon immer eine gewesen, die etwas unternahm, wenn ihr etwas nicht passte. Dennoch war sie verängstigt und verstört und wurde von dem Gefühl beherrscht, dass alles, was sie tat, auf Schattenboxen hinauslief. Wer spielte ihr so übel mit? Würde er aufgeben oder würde es weitergehen? Würde es vielleicht noch schlimmer
Weitere Kostenlose Bücher