Dein Gesicht morgen 03 - Gift und Schatten und Abschied
läge auf ihnen allen ein Fluch. Es ist nicht zu erwarten, daß meine Lieder mich überleben und daß künftige Generationen sie noch immer hören, was soll aus ihnen werden, wenn ich nicht mehr da bin, um sie zu verteidigen und zu wiederholen, wenn ich nicht mehr imstande bin, Konzerte wie das heutige durchzustehen. Sie werden nicht mehr erklingen. In den letzten fünfzehn Jahren habe ich ja nicht mal nennenswert komponiert, große Melodien, die andere morgen aufgreifen und singen könnten, auch wenn es in schrecklichen Versionen wäre, und jetzt habe ich keinen Antrieb mehr, mich zum Schreiben hinzusetzen. Ich glaube nicht, daß mir etwas Denkwürdiges einfallen würde.« Und zu meiner Verblüffung fügte er hinzu: »Wenn schon McCartney und Lennon seit Ewigkeiten nichts mehr hinbekommen, wie sollte es da mir gelingen. Ich werde vollkommen vergessen sein, Viva. Nichts von mir wird bleiben.«
Es lag etwas Theatralisches in seiner Stimme und in den Gesten, mit denen er diese Klagen begleitete, aber man begriff auch, daß sie ein Stück Wahrheit enthielten. Er streckte die Beine noch weiter aus, und ich reckte mich ein wenig, um seine widerwärtigen, bemalten Fersen besser sehen zu können, ich war neugierig auf die Zeichnung oder das Thema seiner Tätowierungen.
»Aber Lennon ist seit dreißig Jahren tot«, konnte ich mir nicht verkneifen anzumerken. »Wie zum Teufel soll er da komponieren.«
»Das ist egal«, antwortete Dearlove spontan. »So gut war er sowieso nie. Hätte ihm nicht einer ein paar Kugeln verpaßt, würden die Leute heute kotzen, wenn sie seine Lieder hören.« ›Noch einer aus der Kennedy-Mansfield-Bruderschaft‹, dachte ich. »Was für ein prätentiöser, schlapper Typ, noch dazu mit einer schlechten Stimme.« Und sogleich blitzte er mich aus seinen kleinen vergrößerten Augen mit dem beschnittenen Lid an, als wäre ich ein leidenschaftlicher Fürsprecher Lennons, was ich nie gewesen bin noch je sein werde. Ich stimmte eher der Diagnose von Dr. Dearlove, dem ehemaligen Zahnarzt, zu, aber ihm das jetzt mitzuteilen, hätte nach primitivster Schmeichelei ausgesehen.
Meine unbesonnene Einmischung hatte zumindest den Vorteil, ihn vorübergehend in gute Laune zu versetzen, das heißt, ihn zu aufzumuntern und von der Melancholie zu befreien, der er sich überlassen hatte, und während des restlichen Abendessens war er wieder ein fröhlicher Mann, der unverschämte, eher plumpe Witze riß. Ich schwieg fast die ganze Zeit über, erhob mich ab und zu verstohlen und machte einen langen Hals, um seine Fersen zu lesen, aber es gelang mir nicht.
Später, die Nase gestrichen voll, informierte ich Ure oder Dundas so summarisch wie möglich:
»Ich bestätige dir, was ich dir neulich gesagt habe, und präzisiere es nur in einer Hinsicht: Er ist dermaßen besorgt um sein Nachleben, daß er eines Tages, wer weiß, etwas Schreckliches tun könnte, damit man sich seiner wenigstens deshalb erinnert. Er glaubt nicht, daß seine Musik ihn überdauern wird. In einem Moment der Verzweiflung könnte er leichtsinnig sein Leben mit einem Schandfleck beschmutzen und darauf verfallen, bewußt den Kennedy-Mansfields beizutreten, wie du sie nennst. Das würde aber gewiß während einer tiefen Depression, einer Bewußtseinstrübung oder dergleichen geschehen oder in etlichen Jahren, wenn er sich schon zurückgezogen hat und keine Konzerte mehr gibt und die Menge ihn nicht mehr auf Händen trägt. Er ist so sehr mit sich selbst beschäftigt, daß er es als einen ungerechten Fluch betrachtet, daß diejenigen, die ihn bewundert und gekannt haben, sterben müssen, als wäre dies nicht das gemeinsame Los aller, die einen Fuß auf die Erde gesetzt und die Welt durchmessen haben.« Und rasch fügte ich hinzu: »Du kennst ihn doch näher, weißt du vielleicht, was er auf die Fersen seiner Füße tätowiert hat?« Es schien mir angebracht, die Frage mit der absurden Präzisierung ›seiner Füße‹ zu formulieren, ›heels‹ kann im Englischen auch ›Absätze‹ bedeuten.
Doch Tupra schenkte dem keine Beachtung. Er war noch nicht ganz zufrieden, und ich mußte ihm jeden einzelnen Satz erzählen, den ich beim Abendessen mit Dearlove, mit Viva Seabrook, mit meinem Landsmann aus dem Showbusiness, der in der Nähe saß, einfach mit jedem gewechselt hatte, der sich in irgendeiner Weise am Gespräch beteiligt hatte. Ich verabscheute es, daß er von mir verlangte, diese Dialoge skrupulös wiederzugeben, daß er mich nötigte, sie zum
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