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Dein Gesicht morgen 03 - Gift und Schatten und Abschied

Dein Gesicht morgen 03 - Gift und Schatten und Abschied

Titel: Dein Gesicht morgen 03 - Gift und Schatten und Abschied Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Javier Marias
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zahlreich waren. Er war vom Tisch abgerückt, er hatte sich zur Seite gewandt, um der Designerin Genevieve Seabrook ins Gesicht zu sehen, und hatte die langen Beine übereinandergeschlagen, so daß ich überrascht und angewidert sehen konnte, daß er sich irgendwann Pantoffeln angezogen hatte, das heißt, er hatte sich auf dem Weg zum Restaurant seiner charakteristischen hohen Stiefel entledigt – seit drei Jahrzehnten oder länger verzichtete er bei keinem Auftritt auf sie, auch nicht, wenn es heiß war –, und ein Paar lächerliche schwarzgoldene Babuschen angezogen, spitz zulaufend, mit sich nach oben krümmender Spitze, und den Fersen in der Luft (sie waren tätowiert, stellte ich mit Unbehagen fest), das Schuhwerk verlieh ihm etwas Häusliches oder fast Sommerliches, was mich ebenfalls deprimierte. Der Typ erschien mir noch immer so lächerlich wie beim ersten Mal und noch abstoßender, aber er flößte mir auch einen Hauch Mitleid ein, der Offenherzigkeit wegen, mit der er seine jetzigen Schwierigkeiten als Eroberer zugab und daß ihm nichts anderes übrigblieb, als für seine Abenteuer zu blechen, zumindest bei den britischen mit ›zarten Leckerbissen‹. Ich hoffte, während dieses irrwitzigen Gesprächs nicht zu erfahren, wie zart sie sein durften, ich gedachte nicht, es herauszufinden, sosehr mir Tupra diese frustrierende Aufgabe auch nahegelegt hatte. In der Tat beschloß ich, Dearlove nichts weiter zu fragen oder zu entlocken, was ich gehört hatte, reichte mir für einen summarischen Bericht (schließlich hatte ich bei so vielen bewundernden oder schöntuenden, wenn nicht ihrerseits hochberühmten Gästen im Umkreis nur wenige Gelegenheiten), und alles übrige konnte ich erfinden, wenn Ure mich drängte (mir kam der Gedanke, daß Tupra in Schottland diesem zuneigen würde, oder vielleicht würde er in Edinburgh Dundas den Vorzug geben).
    »Nein, das sage ich dir nicht, lieber Dickie«, antwortete ihm Viva Seabrook mit einem so liebevollen wie maliziösen Lächeln, soweit ich das beurteilen kann, denn die Schminkschichten liefen ihr ineinander und erreichten zusammen gut und gerne die Dicke einer ägyptischen Totenmaske, ich meine, die eines Pharaos. »Aber du mußt bedenken, daß Jungen in ihrem frühesten Alter zu allem bereit sind, um ihn einer Frau reinzustecken. Das ist meine Chance, obwohl sie mir manchmal mit dem Laken oder mit meinen eigenen Röcken das Gesicht zudecken, und das stößt mir ziemlich übel auf. Jetzt nicht mehr so sehr, aber als mir das erste Mal einer das Kissen aufdrückte, bekam ich einen Wutanfall und scheuchte den Burschen mit Flüchen und Beleidigungen davon. Ich glaube, daß ich gut aussehe, aber sie haben natürlich das Bedürfnis, mich nicht mit ihren Müttern oder Tanten in Verbindung zu bringen, ich verstehe, daß das abschreckend ist, und im allgemeinen sind sie so primitiv, so authentisch erbarmungslos und grob … Na, du kennst das ja.«
    Es wunderte mich, daß auch sie vor einem Unbekannten wie mir so ungeniert daherredete. Vielleicht wurde das durch das Ambiente und die herrschende Eitelkeit begünstigt; vielleicht bemerkten sie die Menschen ringsum gar nicht, so als könnten nur die sehr Berühmten einander wahrnehmen und die übrige Welt erschiene ihnen als Nebelflecken, die nicht wichtig waren und nur als Publikum oder Clique zählten, die anfeuert und applaudiert oder schlimmstenfalls respektvoll oder befangen schweigt und sich darauf beschränkt, dem Dialog der Berühmtheiten zu folgen, als säßen sie im dunklen Zuschauerraum eines Theaters. In gewissem Sinne war es, als wären die beiden allein. Und was Dearlove ihr antwortete, nachdem er seine Locken ein paar Augenblicke auf Seabrooks riesiges Dekolleté gebreitet hatte, als suchte er am Busen der alten Freundin Trost und Zuflucht, bestätigte meinen Eindruck:
    »O Viva, wieviel bleibt uns oder wieviel bleibt mir. Es wird ein Tag kommen, an dem ich nur eine Erinnerung für die Älteren bin, und diese Erinnerung wird immer schwächer werden, je mehr von denen sterben, die sie bewahren, einer nach dem anderen, immer weniger Menschen nach so vielen Jahren, da deren Zahl wuchs, und so stehe ich dieser Entwicklung hilflos gegenüber. Es ist ja nicht nur so, daß man alt wird und verschwindet, es verschwinden mit der Zeit ja auch alle, die von mir erzählen können, die mich gesehen und gehört und die mit mir geschlafen haben, so jung sie in dem Augenblick auch waren, sie werden alt und dick und sterben, als

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