Dein Gesicht morgen 03 - Gift und Schatten und Abschied
(kein Mensch weiß, was letzteres eigentlich heißt, aber verwendet wird es pausenlos). › Ps ‹, vor allem gefolgt von ›Tah‹, war wesentlich entmutigender, überaus abschreckend.
»Warten Sie, Professor, ich habe da noch eins für Sie. Das ist schon viel ausgefeilter, und außerdem ist es viel krasser, richtig heftig.«
Da fing er schon mit seinem Halbslang und seinen Halbgrobheiten an, Rafita ließ sich von niemandem abschrecken. Es beruhigte mich festzustellen, daß er sich seit unserer letzten Begegnung kaum verändert hatte, als er auf dem Boden lag, verprügelt, mit einer Todesangst im Leib, zitternd und wortlos flehend, die Augen unfokussiert und trübe, und dabei hatte er nicht einmal gewagt, uns anzusehen, den Bestrafer und seinen Begleiter, mich nämlich, ich war mit ihm verbunden. Er schien sich davon erholt zu haben, die Angelegenheit konnte so schlimm nicht gewesen sein, wenn er noch immer bereit war, bei erster Gelegenheit dem nächstbesten Kandidaten auf den Geist zu gehen. Er war wohl einer von denen, die niemals lernen, einer, bei dem Hopfen und Malz verloren war. Allerdings war auch nicht damit zu rechnen, daß Professor Rico ihn mit einem Schwert oder Dolch bedrohte oder ihn am Genick packte und ihm mehrmals die Stirn gegen den Tisch schlug. Er würde ihn höchstens gehörig anschnauzen oder ihn schonungslos zur Schnecke machen, es stimmte, daß er als bissig und verletzend galt, wie der schnöde Garralde gesagt hatte, als einer, der mit seinen groben Meinungen und persönlichen Angriffen nicht hinterm Berg hielt, wenn sie ihm gerechtfertigt schienen. Jetzt saß er lustlos in einem Lehnstuhl, den Kopf in den Nacken gelegt wie ein gleichgültiger und skeptischer Richter, die Beine elegant übereinandergeschlagen, den rechten Unterarm auf der Rückenlehne, in der Hand eine Zigarette, deren Asche er auf den Boden fallen ließ, indem er mit dem Daumennagel sachte gegen den Filter klopfte. Wenn ihm niemand einen Aschenbecher hinstellte, würde er sich gewiß keinen suchen gehen. Hin und wieder stieß er den Rauch durch die Nase aus, eine heutzutage etwas altmodische und darum noch elegante Geste. Das Rauchverbot in öffentlichen Gebäuden scherte ihn zweifellos überhaupt nicht. Er war gut gekleidet und beschuht, das Hemd und der Anzug sahen mir nach Zegna oder Corneliani oder so aus, aber die Schuhe waren nicht von Hlustik, soviel war sicher, bestimmt stammten sie ebenfalls aus südlichen Gefilden. Rafita stand vor ihm, man merkte ihm die Aufregung an, anscheinend lag ihm viel an Ricos Urteil, auf das er jedoch nicht hörte, da es bisher nicht wohlwollend ausfiel. Es gibt auf der Welt immer mehr solche Leute, die nur zur Kenntnis nehmen, was ihnen gefällt oder schmeichelt, und alles andere gar nicht erst zu hören scheinen. Anfangs war dieses Phänomen auf Politiker und mittelmäßige, erfolgshungrige Künstler beschränkt, aber in der Zwischenzeit sind ganze Völker davon befallen. Ich sah die beiden wie aus der fünften Reihe im Theater, und wenn ich mich genau zur halboffenen Tür ausrichtete, hatte ich beide vollständig im Blick.
»Jetzt paß mal auf, junger De la Garza«, sagte Rico mit beleidigender Herablassung in der Stimme, »es ist sonnenklar, daß Gott dich mit keinem großen Talent für einfältige Nonsens-Verse ausgestattet hat. Vom Struwwelpeter bist du meilenweit entfernt, und Edward Lear steckt dich hundert Mal in die Tasche.« Der Professor gab sich mit Bedacht schulmeisterlich, das heißt aus Spaß, denn ohne Zweifel hatte Rafita diese Namen noch nie gehört, den von Lear kannte ich zufällig aus meinen schulmeisterlichen Jahren in Oxford, der andere kam mir nicht einmal bekannt vor, später habe ich ihn dann nachgeschlagen. »Nun denn, ich glaube nicht, daß du dich seinen Ratschlüssen widersetzen solltest, derr, allein schon, damit du nicht deine Zeit verschwendest. Für die hohe Dichtkunst wird er dich natürlich auch nicht bestimmt haben, dir würde es nicht einmal für ›Una alta ricca rocca …‹ reichen, und dabei hättest du doch sechs lange Jahrhunderte Vorsprung.« Das Zitat oder was es auch sein mochte gab er mit sorgfältiger italienischer Aussprache zum Besten, ich schloß daraus, daß es sich nicht um Spanisch, sondern um Italienisch handelte, trotz der gleichlautenden Worte; vielleicht stammte es von Petrarca, auf den er spezialisiert war, so wie auf zahlreiche andere Autoren der Weltliteratur und bestimmt auch auf den Struwwelpeter , sein Wissen war
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