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Dein Gesicht morgen 03 - Gift und Schatten und Abschied

Dein Gesicht morgen 03 - Gift und Schatten und Abschied

Titel: Dein Gesicht morgen 03 - Gift und Schatten und Abschied Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Javier Marias
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Beachtung mehr zu schenken, ich frage mich, warum ich das tun sollte und warum zum Henker wir alle es in mehr oder minder hohem Maß tun, ich bin nicht einmal sicher, daß das nicht einfach eine weitere Quelle von Konflikten darstellt, selbst wenn unser Blick wohlwollend ist. Er war schon neunzig. Kein Wunder, daß er von sich selbst ausruhen wollte. Und auch von den anderen.
    »Also, so was«, antwortete er leicht verärgert, als hätte ich ihn mutwillig und zum Spaß hinters Licht geführt. »Du hast mir doch immer von Oxford erzählt. Daß sie dir eine Stelle zum Unterrichten angeboten hätten. Ein gewisser Kavanagh, der Schauerromane schreibt, er ist Mediävist, nicht wahr? Und natürlich weiß ich, wer dein Freund Wheeler ist, ich habe sogar das eine oder andere Buch von ihm gelesen. Aber hieß er nicht Rylands? Du hast ihn immer Rylands genannt.« Ich sagte ihm nicht, daß die beiden Brüder gewesen waren, das hätte ihn nur noch weiter verwirrt. »Und an welcher Universität bist du nun in London?«
    So funktioniert das Gedächtnis alter Menschen. Er erinnerte sich an Aidan Kavanagh, an dessen Namen und sogar an seine erfolgreichen Romane, die er unter Pseudonym veröffentlichte, ein sympathischer und auf bewußte Weise frivoler Mann, Leiter des Spanisch-Departments oder der Spanischen Abteilung während meiner Oxforder Zeit, jetzt seit kurzem emeritiert; ebenso erinnerte er sich an Rylands, auch wenn er ihn verwechselte; doch dann erinnerte er sich wieder nicht daran, daß ich bei meinem zweiten Aufenthalt in England zur BBC gegangen war, in einer Zeit, die so nahe lag, daß sie noch immer anhielt. Er hatte keinen Grund, sich an das zu erinnern, was anschließend gekommen war: Wie Luisa hatte ich auch ihm wenig von meiner neuen Arbeit erzählt – Vagheiten, vielleicht Ausflüchte. Es ist seltsam, wie man Dinge instinktiv verbirgt oder lieber verschweigt – das ist nicht das gleiche –, die einem von Anfang an zwielichtig vorkommen: Wie man Luisa nichts davon sagt, daß man eine Frau kennengelernt hat, mit der man bei einem Meeting oder einem Fest kaum ein paar Sätze gewechselt hat, mit der es noch nichts geben kann und auch nichts geben wird, die einen jedoch sofort anzog. Vielleicht hatten weder mein Vater noch Luisa mich jemals Tupra erwähnen hören oder nur ganz nebenbei, wo er doch zweifellos die beherrschende Gestalt meines Lebens in London war (ein paar Tage später sollte ich feststellen, wie sehr das der Fall war). In jenem Augenblick schien es mir nicht der Mühe wert, den Irrtum meines Vaters aufzuklären und ihm zu sagen, daß ich überhaupt nirgends unterrichtete.
    »Ich gehe jetzt mal, Papa«, antwortete ich. »Ich werde in den nächsten Tagen immer wieder vorbeischauen, wenn ich etwas Zeit habe. Soll ich dir Bescheid sagen, dich anrufen, bevor ich komme?«
    Durch meine ausgedehnte Abwesenheit fühlte ich mich ein wenig als Eindringling und sah mich daher zu dieser Rücksichtnahme veranlaßt, die als Verhalten eines Sohnes gegenüber seinem Vater, dessen Wohnung viele Jahre lang auch die seine gewesen war, etwas überzogen sein mochte. Ich stand immer noch, die Hand auf seiner Schulter. Er blickte zu mir hoch, ich weiß nicht, ob er mich sah oder erriet oder erinnerte. Sein Blick jedenfalls war klar, erstaunt, ein wenig hilflos, als könnte er nicht recht verstehen, daß ich ging. Seine Augen wirkten sehr blau in letzter Zeit, mehr denn je in seinem Leben, vielleicht, weil er keine Brille mehr trug.
    »Das ist nicht nötig, mein Junge. Für mich wohnt ihr alle noch hier, selbst wenn ihr schon seit längerem ausgezogen seid.« Er schwieg kurz und fügte dann hinzu: »Wie eure Mutter auch.«
    Mir wurde nicht klar, ob sie weiter in der Wohnung lebte oder ob er ihr ebenfalls vorhielt, daß sie gegangen war, als sie starb, das war länger her als bei allen anderen. Wahrscheinlich beides zusammen.


    U nd ich verlor weiter keine Zeit, I did not linger or delay or loiter or dally . Obwohl ich große Lust hatte, die Kinder und erst recht Luisa wiederzusehen, auch meine Schwester und zum ersten Mal meine Brüder und einige wenige Freunde, und wie ein Ausländer durch meine Stadt zu schlendern, hatte ich das Gefühl, etwas Konkretes und Dringliches erledigen, etwas herausfinden und lösen oder ausräumen zu müssen. Das immerhin hatte ich von Tupra gelernt, wenigstens theoretisch: Luisa schwebte zweifellos in Gefahr, und jetzt verstand ich, daß man manchmal nichts anderes tun konnte als das, was

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