Dein Gesicht morgen 03 - Gift und Schatten und Abschied
haben, keiner von uns hat das Thema aufgebracht‹, und das bestärkte mich weiter in meinem Entschluß oder in meiner ersten Überlegung, die keine zweite zuließ), bestand der nächste Schritt darin, ihre Schwester aufzusuchen oder mit ihr zu telefonieren; wir hatten uns zwar noch nie besonders gut verstanden und keine persönliche Beziehung aufgebaut, sie führte ein wenig familienorientiertes, unabhängiges Leben und sah die Kinder und mich nur sehr sporadisch, als bloßen Zusatz zu Luisa, aber mit ihr traf sie sich ein- oder zweimal im Monat, entweder besuchte Luisa sie in ihrer kinderfreien Wohnung, meist war der Ehemann abwesend, oder sie trafen sich in einem Restaurant zum Mittagessen und tauschten sich über ihre Leben aus, ich wußte nicht, wie viel sie einander erzählten, vermutete jedoch so gut wie alles. Wenn jemand Bescheid wissen, wenn jemand den Mann mit der langen Hand kennen konnte, sein Gesicht und seinen Namen, dann war sie das, Luisas widerspenstige jüngere Schwester Cristina. Und so sehr sie sich Luisa verpflichtet fühlen und mich immer als unnötiges Anhängsel gesehen haben mochte, falls ihr etwas Sorgen machte – und der Bursche war ziemlich besorgniserregend, ob meine Schlüsse zutrafen oder nicht –, würde sie es mir sicher sagen und die Meinung eines Menschen, der ähnlich dachte, bereitwillig zur Kenntnis nehmen.
Ich rief sie bei Einbruch der Dunkelheit an, sie zeigte sich überrascht, sie hatte nicht gewußt, daß ich in Madrid war, aber dazu gab es auch keinen Grund, es sei denn, sie hätte tagsüber mit ihrer Schwester gesprochen und die hätte ihr davon berichtet, sie erkundigte sich, wie es mir in London gehe, ich war frappiert, daß ihr geläufig war, wo ich lebte, ›Gut‹, antwortete ich, ohne ins Detail zu gehen, die Frage war eine bloße Höflichkeitsfloskel, und so bat ich sie ohne weitere Umschweife, sich so bald wie möglich mit mir zu treffen, ›Das geht nicht‹, sagte sie, ›ich verreise morgen und habe noch eine Menge vorzubereiten‹, ›Wie lange bist du denn weg?‹, ›Eine Woche‹, ›Wenn du zurückkommst, wäre das etwas knapp, es müßte schon vorher sein, ich bin nur für vierzehn Tage hier, das heißt, jetzt sind es schon weniger, wann geht denn dein Flug?‹, insistierte ich, ›Am Mittag, aber vorher bin ich ausgebucht, kannst du mir das denn nicht am Telefon erzählen? Geht es um Luisa?‹, ›Ja, es geht um Luisa‹. Da verstummte sie für einige Sekunden, und mir kam es so vor, als setzte sie sich hin. ›Also gut, laß hören. Na komm, sag schon‹, ›Jetzt gleich?‹, ›Ja, jetzt gleich. Wenn es das ist, was ich vermute, brauchen wir nicht lange, und streiten werden wir uns, glaube ich, auch nicht, wir werden da kaum unterschiedlicher Meinung sein. Es ist wegen Custardoy, stimmt’s?‹
›Wegen wem?‹
›Custardoy, der Typ, mit dem sie ausgeht. Weißt du das etwa nicht? Ach Jaime, sag bloß nicht, daß du das nicht wußtest.‹ Letzteres klang nicht, als ob sie befürchtete, sich mir gegenüber verplappert zu haben, sondern als könnte sie es nicht fassen, daß ich vielleicht tatsächlich nichts wußte. Möglicherweise hatte sie mich schon immer für einen unaufmerksamen Menschen gehalten, oder noch schlimmer, für einen Schafskopf.
›Ich bin gerade erst angekommen, ich wußte nicht, wie er heißt.‹ Jetzt wußte ich es und wußte, daß es ihn in Luisas derzeitigem Leben gab, das waren also keine Mutmaßungen mehr. Ich brauchte nur noch sein Gesicht zu sehen und zu erfahren, wo ich ihn finden konnte. Custardoy. Das war ein wenig verbreiteter, ungewöhnlicher Nachname, in der Stadt gab es sicher nicht viele davon. ›Ich bin jetzt schon ziemlich lange weg, und bei Telefonaten ist es nicht so leicht, alles mitzubekommen. Wer ist er? Was macht er?‹
›Er ist Maler oder Kopist, oder beides. Böse Zungen behaupten, er sei auch Bilderfälscher, jedenfalls ist er in der Kunstszene unterwegs. Ehrlich gesagt bin ich froh, daß du angerufen hast, ich mache mir deswegen ziemliche Sorgen. Wobei ich nicht weiß, ob man etwas tun kann, bei solchen Geschichten ist meistens nicht viel zu machen.
›Sorgen? Wieso? Und was für Geschichten?‹
›Sag erst du, was du mir sagen wolltest. Was hat Luisa dir erzählt?‹
Ich war mir nicht sicher, ob ich vorgeben sollte, mehr zu wissen, als ich tatsächlich wußte, aber es wäre mir als unklug erschienen, Cristina war ein widerspenstiger Mensch, und wenn sie Lunte roch, konnte sie auf den Gedanken
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