Dein Gesicht morgen 03 - Gift und Schatten und Abschied
zu tun war, und zwar sofort, ohne zu warten oder zu zögern oder sich aufzuhalten: Man mußte es lediglich so ausführen wie ein zerstreuter oder, besser, beschäftigter Mann, wie jemand der arbeitet, und ohne sich Fragen zu stellen. Ja, es gab Gelegenheiten, da wußte man, was in der Welt möglich wäre, wenn es weder Zwänge noch Hindernisse gäbe, da hatte man Gewißheit in bezug auf die menschlichen Fähigkeiten, und um zu verhindern, daß sie sich mit aller Kraft entfalteten, mußte es jemanden geben – mich zum Beispiel, und wer hätte es in diesem Fall sonst sein sollen –, der sie davon abhielt oder daran hinderte. Tupra genügte es, sich einzureden, was jeweils eintreten würde, wenn nicht er oder eine andere Instanz hemmend eingriffen – die Obrigkeit oder die Gesetze, der Instinkt, der Mond, der Sturm, die Angst, das Schwert, das in der Luft schwebt, die unsichtbaren Wächter –, um abschreckende Maßnahmen zu ergreifen, wenn sie nach seiner Ansicht geboten waren, solche, die er für angebracht hielt. ›Das ist der Stil der Welt‹, sagte er angesichts so vieler Dinge und Situationen: Er sagte es angesichts von Verrat und Treue, von Ängsten und beschleunigtem Puls, von Herzrasen und Schwindel und Unschlüssigkeit und Qualen und ungewollten Schädigungen, angesichts des Stichs und des Schmerzes und des Fiebers und der unheilbaren Wunde, angesichts der Leiden und der unzähligen Schritte, die wir alle in dem Glauben tun, daß der Wille sie leitet oder zumindest an ihnen beteiligt ist. Alles erschien ihm normal und sogar routinehaft bisweilen, er wußte nur zu gut, daß die Erde verpestet ist von Leidenschaften und Affekten und von Haßgefühlen und Böswilligkeiten, und daß die Menschen oft weder die einen noch die anderen vermeiden können und es außerdem gar nicht wollen, denn sie sind Lunte und Nahrung ihrer Verbrennung, auch ihr Grund und ihr Funke. Und daß sie dafür weder einen Beweggrund noch ein Ziel benötigen, weder einen Zweck noch eine Ursache, weder Dankbarkeit noch Kränkung, oder nicht immer, oder, wie Wheeler meinte, der deutlicher war, ›sie tragen ihre Möglichkeiten im Blut, und es ist nur eine Frage der Zeit, der Versuchungen und der Umstände, die sie schließlich zur Entfaltung bringen‹. Und wahrscheinlich war seine so drastische, manchmal unbarmherzige oder nur praktische Bereitschaft für Tupra ein Kennzeichen mehr dieses Stils der Welt, mit dem er sich abfand oder an den er sich hielt; diese unüberlegte, gnadenlose, entschlossene Haltung (oder sie beruhte nur auf einer Überlegung, der ersten) gehörte ebenfalls zu diesem Stil, der durch alle Zeiten und jeden Raum hindurch unveränderlich war, und es gab keinen Grund, sie in Frage zu stellen, so wie man es auch nicht in bezug auf das Wachsein und den Schlaf oder das Gehör und den Gesichtssinn oder das Atmen und das Gehen und das Sprechen oder all das zu tun braucht, von dem man weiß, ›so ist es, und so wird es immer sein‹. Jetzt fühlte ich mich wie er, das heißt wie einer von denen, die nichts ankündigten, oder nicht immer, die Entscheidungen aus der Ferne trafen und aus kaum erkennbaren Beweggründen heraus oder ohne daß die Handlungen einen ursächlichen Zusammenhang mit ihnen herstellten, und schon gar nicht die Beweise für den Vollzug dieser Handlungen. Auch ich brauchte keine Beweise bei diesem willkürlichen oder begründeten Anlaß – wer wußte das schon, und was spielte es für eine Rolle –, bei dem ich nicht die geringste Warnung oder Vorwarnung vorauszuschicken gedachte, bevor der Säbelhieb erfolgte, ich brauchte nicht einmal die vollzogenen oder erwiesenen Handlungen, die Ereignisse, die Tatsachen oder die Gewißheit, um mich in Bewegung zu setzen und den Mann aus Luisas Leben zu entfernen, mit dem sie sich verfinsterte und der sie bedrohte, und damit auch meine Kinder. Zuerst mußte ich Erkundigungen einholen, dann würde ich ihm einen Besuch abstatten. Sie selbst würde mir kein Wort über ihn sagen, schon gar nicht, nachdem ich sofort Mißtrauen gegen diesen noch namen- und gesichtslosen Typen gefaßt hatte, der ihr verletztes Gesicht mit den tausend Farben zu verantworten hatte. Nach den Mutmaßungen meines Vaters, der glaubte, meine Frau werde demjenigen, der sie jetzt mit Hoffnung erfüllte oder den sie in den Blick nahm, etliches durchgehen lassen (›Ja, streng genommen ist sie noch meine Frau‹, dachte ich. ›Wir haben uns nicht scheiden lassen, und es scheint damit keine Eile zu
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