Dein Gesicht morgen 03 - Gift und Schatten und Abschied
ihn etwas durcheinanderbrachte, wenn er die Augen weit aufriß, als sähe er die Welt zum ersten Mal, mit einem so undurchdringlichen Blick wie dem von Babys, wenn sie wenige Wochen oder Tage alt sind und vermutlich diesen neuen Ort beobachten, an den sie geworfen wurden, und gleichzeitig versuchen, unsere Gewohnheiten zu entschlüsseln und herauszufinden, welche die ihren sein werden. Die Sehkraft meines Vaters war vermutlich so gering, wie man manchmal hört, daß es die von Neugeborenen sei, vielleicht konnte er nur Schatten ausmachen, Flecken, das bekannte Licht und die verschwommenen Farben, unmöglich, das zu wissen, er behauptete, viel mehr zu sehen, als es unserem Eindruck entsprach, womöglich aus einer Art Stolz heraus, der ihn daran hinderte, sich einzugestehen, wie sehr seine Kräfte tatsächlich nachgelassen hatten. Er wußte, wer ich war, und sein Gehör funktionierte noch ausgezeichnet, es konnte also sein, daß er vor allem mit dem Gedächtnis sah. Nicht zuletzt deshalb verortete er mich in Oxford, wo ich in der Tat gelebt hatte, wenn auch vor vielen Jahren, und von wo ich ja auch zurückgekehrt war. Ob ich hingegen aus London zurückkehren würde, war unklar (jetzt war ich zurückgekommen; ich meine, um zu bleiben). Sooft ich ihn während jenes zwei Wochen langen Aufenthalts besuchen ging, ergriff ich die eine oder andere Gelegenheit dazu: Ich legte ihm die Hand auf die Schulter und ließ sie eine Weile dort liegen, mit leichtem Druck, damit er sie gut spüren konnte, damit er feststellte, daß ich nahe war, in Verbindung, um ihm Sicherheit zu geben und ihn zu besänftigen. Ich konnte seine Knochen erfühlen, auch das Schlüsselbein, sie traten ein wenig hervor, er hatte abgenommen seit meinem Weggehen, und sie fühlten sich spröde an, nicht, als könnten sie brechen, aber doch leicht aus dem Gelenk springen, bei einer ungünstigen Bewegung oder Anstrengung; wenn seine Pflegerin ihn anfaßte, tat sie es ganz behutsam. Einmal jedoch wandte er neugierig den Blick zu meiner aufgelegten Hand, in keiner Weise ablehnend. Mir kam in den Sinn, daß es ihm möglicherweise seltsam erschien, diese Geste auf sich angewandt zu sehen, die er vermutlich in meiner Kindheit häufig an mir vollzogen hatte, als er der Große war und ich erst ganz allmählich wuchs, der nach unten gebeugte Vater, der dem Sohn die Hand auf die Schulter legt, um ihn anzuleiten oder um ihm Vertrauen einzuflößen oder ihm symbolischen Schutz zu bieten oder ihn zu beschwichtigen. An dem Tag sah er meine Hand an wie eine harmlose Fliege, die sich auf ihm niedergelassen hat, oder vielleicht etwas Größeres, eine Eidechse, die einen Moment lang auf ihren Wegen innehält, als hörte sie hinter sich Schritte. ›Warum legst du mir die Hand auf?‹ fragte er mich mit einem halben Lächeln; er wirkte in gewisser Weise belustigt. ›Magst du das nicht?‹ fragte ich, und er antwortete: ›Ach, wenn dir danach ist. Mich stört es nicht.‹ Doch bei diesem ersten Besuch, wie bei den meisten, beachtete er es nicht besonders oder beschränkte sich darauf, den Orientierung gebenden, beruhigenden, sanften Druck zu spüren, ohne etwas dazu zu sagen. Ich beantwortete seine Frage:
»Ich lebe nicht mehr in Oxford, Papa. Ich fahre nur hin und wieder dahin, um Wheeler zu besuchen, ich habe dir von ihm erzählt, weißt du nicht mehr? Sir Peter Wheeler, der Hispanist. Er ist fast genau so alt wie du, ein Jahr älter. Aber sonst lebe ich jetzt in London. In zwei Wochen fliege ich zurück.«
Vielleicht hatte seine kluge Deutung Luisas ihn erschöpft, er hatte sich für mich ins Zeug gelegt und mußte jetzt dafür bezahlen. Es war, als wäre er seiner Klarsicht auf einmal müde geworden und mit den Zeiten durcheinandergeraten, wie schon tags zuvor am Telefon. Vielleicht hielt er es nicht mehr allzulange aus, er selbst zu sein, ich meine, derselbe wie immer, der Wachsame, intellektuell Anspruchsvolle, der seine Kinder aufforderte, immer weiterzudenken, indem er sagte: ›Und was noch‹, wenn wir eine Argumentation oder eine Überlegung abschlossen, und der uns antrieb, Dinge und Menschen länger anzusehen als nötig, wenn man das Gefühl hatte, daß es nichts mehr zu sehen gab und daß es verlorene Zeit war, fortzufahren. ›Dort, wo man glauben könnte, daß es nichts mehr geben kann‹, so lauteten seine Worte. Ja, mit den Jahren wird mir klar, daß das ermüdet und mürbe macht, und manchmal überkommt mich die Lust, meinen Mitmenschen und der Welt keine
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