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Dein Gesicht morgen 03 - Gift und Schatten und Abschied

Dein Gesicht morgen 03 - Gift und Schatten und Abschied

Titel: Dein Gesicht morgen 03 - Gift und Schatten und Abschied Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Javier Marias
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wunderten, als erschreckten wir uns: Zähl die Toten, die in jeder Nachrichtensendung erwähnt werden, lies die Liste der Todesfälle in der Zeitung, in einer einzigen Stadt, Madrid, London, eine lange Liste jeden Tag; schau dir die Todesanzeigen an, und nur sehr wenige Menschen geben eine auf, schau dir die Nachrufe an, noch weniger Menschen wird einer zugedacht, einer winzigen Minderheit, doch sie fehlen an keinem Morgen. Wie viele sterben jedes Wochenende auf den Straßen, und wie viele sind in den zahllosen Schlachten gestorben. Nicht immer hat man Verluste im Lauf der Geschichte wie heute gesehen, eher fast nie. Man war damit vertrauter und auch einverstandener, man akzeptierte den Zufall und das Schicksal, ob gut oder schlecht, man wußte, daß man ihm jeden Augenblick ausgesetzt war; die Leute kamen auf die Welt und verschwanden, das war normal, manchmal hatten sie sie kaum betreten, bis vor achtzig oder siebzig Jahren war die Kindersterblichkeit sehr hoch, auch die der Mütter bei der Geburt, sie verabschiedeten sich von ihrem Kind, kaum daß sie sein Gesicht gesehen hatten, wenn ihnen noch danach war oder sie überhaupt Zeit dazu hatten. Seuchen waren verbreitet und fast jede Krankheit war tödlich, Krankheiten, von denen wir heute gar nichts merken oder deren Namen uns nicht einmal bekannt sind; es gab Hungersnöte, es gab ständig Kriege, die außerdem wirkliche Kriege waren, mit täglichen Kämpfen, nicht so sporadisch wie jetzt, und die Generäle scherten sich nicht um Verluste, die Soldaten fielen, und es passierte nichts weiter, Individuen waren sie nur für sich selbst, nicht einmal so sehr für ihre Familien, keine einzige blieb von vorzeitigen Leichnamen verschont, das war die Regel; die Regierenden machten ein betrübtes Gesicht und schritten zu neuen Taten, rekrutierten weitere Truppen und schickten sie an die Front, damit sie dort weiter fielen, fast niemand protestierte. Man rechnete mit dem Tod, Jack, es gab nicht diese panische Angst vor ihm, er war kein unüberwindliches Verhängnis, keine schreckliche Ungerechtigkeit; er war das, was kommen konnte und oft kam. Wir sind sehr verweichlicht, unsere Haut ist sehr dünn, wir glauben, was wir haben, müßte für immer so sein. Wir sollten an Vorläufigkeit gewöhnt sein, an das Gegenteil. Wir gewöhnen uns beharrlich nicht daran, und deshalb ist es so leicht, uns Angst einzujagen, das hast du ja gesehen, man braucht nur ein Schwert zu heben. Und so ziehen wir den kürzeren gegenüber denjenigen, die die Toten noch immer als bloße Berufsrisiken sehen, die eigenen und die fremden, als Unfälle des Tages. Gegenüber den Terroristen, zum Beispiel, oder gegenüber den großen Drogenhändlern oder gegenüber der multinationalen Mafia. Es stimmt also, Yago.« Ich mochte es nicht, wenn er mich beim Namen des Einflüsterers nannte; er klang schmutzig in meinen Ohren, ich erkannte mich nicht wieder (ich, der ich mich in so vielen erkenne). »Es ist notwendig, dass einige von uns den Tod nicht überschätzen. Den Tod der Leute, wie du empört gesagt hast, das ist mir trotz deines neutralen Tons nicht entgangen, eine gute, aber unzureichende Verschleierung. Es ist ratsam, daß einige von uns aus unserer Zeit heraustreten und einen Blick wie in rauheren Zeiten haben, in vergangenen wie zukünftigen (denn sie werden wiederkommen, das versichere ich dir, obwohl ich nicht weiß, ob du und ich sie erleben werden), damit uns nicht kollektiv widerfährt, was ein französischer Dichter gesagt hat: ›Par délicatesse j’ai perdu ma vie.‹ « Und er machte sich die Mühe, mir das zu übersetzen, da sah ich einen Rest von dem Holzkopf, den er hinter sich gelassen hatte: ›Aus Taktgefühl verlor ich das Leben.‹
    Ich warf einen Blick auf seine Füße, auf seine Schuhe, wie ich es bei einem unserer ersten Treffen getan hatte, weil ich fürchtete, er könnte irgend etwas Abwegiges tragen, kurze grüne Stiefel aus Kaimanleder wie Marschall Bonanza oder sogar Holzpantinen. So war es nicht, er trug stets elegante braune oder schwarze Schuhe mit Schnürsenkeln, sie waren überhaupt nicht die eines Holzkopfes, verdächtig waren nur die Westen, auf die er selten verzichtete, obwohl sie eher antiquiert oder unzeitgemäß als sonst was wirkten, wie ein Überrest der siebziger Jahre, in denen er wohl begonnen hatten, dem Leben ernsthaft ins Gesicht zu blicken, ich meine, mit wahrer Sachkenntnis und mit Verantwortungsbewußtsein oder mit einer klaren Vorstellung von den

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