Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Dein Gesicht morgen 03 - Gift und Schatten und Abschied

Dein Gesicht morgen 03 - Gift und Schatten und Abschied

Titel: Dein Gesicht morgen 03 - Gift und Schatten und Abschied Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Javier Marias
Vom Netzwerk:
sexuellen Sache sehen. Reresby betrachtet den Tod vermutlich als nicht weiter bedeutsam, er wird ihm nicht außergewöhnlich erscheinen; vielleicht hat er mich deshalb gefragt, warum man ihn nicht einfach so zuteil werden lassen kann, vielleicht hält er ihn für einen Zufall unter vielen, und er leugnet den Zufall nicht, noch haßt er ihn, noch fordert er für alles eine Erklärung, im Unterschied zu den Dummen, die überall Zeichen sehen müssen und Verkettungen und Verbindungen. Es kann sein, daß er den Zufall so wenig haßt, daß es ihm nichts ausmacht, von Zeit zu Zeit in ihm aufzugehen und sich mit seinem Schwert zu Sir Death zu erheben und zum Knecht des fleißigen Knechts zu werden. Er selbst muß eines Tages ein Holzkopf gewesen sein oder lange Zeit.‹
    »Du achtest die Leute nicht besonders, nicht wahr?« sagte ich. »Du achtest den Tod nicht besonders. Den Tod der Leute.«
    Tupra befeuchtete sich die Lippen, nicht mit der Zunge, sondern mit den Lippen selbst, als riebe er die eine an der anderen und das genügte, um sie zu benetzen, schließlich und endlich waren sie ziemlich fleischig und breit und bestimmt immer von etwas Speichel bedeckt. Dann trank er einen Schluck, ich hatte den beunruhigenden Eindruck, daß er sich im doppelten Sinn die Lippen leckte. Er bot mir abermals Likör an, jetzt akzeptierte ich, den Gaumen wie mit einer Oblate bedeckt oder einem Schleier, er schenkte mir aus der Karaffe ein, bis ich ihm mit der Hand ›genug‹ signalisierte.
    »Jetzt kommst du der Sache allmählich näher«, antwortete er, und das brachte mich wieder auf den Gedanken, daß er mich führte, sogar wenn ich es war, der Rechenschaft von ihm forderte, war er es, der führte. Ein schlechter Angeklagter und ein schlechter Zeuge. Er sah mich mit Wohlgefallen aus seinen blauen oder grauen Augen an, unter seinen Wimpern hervor, die wie Halbmonde wirkten, das Feuer verlieh ihnen Glanz. »Jetzt wirst du mir wieder Vorwürfe machen, warum ich getan habe, was ich getan habe, und das alles. Du bist deiner Zeit verhaftet, Jack, allzusehr deiner Zeit verhaftet, und das ist das Schlimmste, was man sein kann, denn es geht einem schlecht, wenn man um einer Sache willen leidet, um derentwillen alle leiden, es gibt kein Entrinnen, wenn alle einverstanden sind und dasselbe sehen und denselben Dingen Bedeutung verleihen und wenn dieselben ihnen schwerwiegend erscheinen und dieselben bedeutungslos. In der Einstimmigkeit gibt es keine Klarheit und kein Atemholen, es gibt kein Auslüften, nicht einmal in den Gemeinplätzen, die so viele teilen. Man muß sich davon freimachen, um besser, um angenehmer zu leben. Auch wahrhaftiger, ohne die Zustimmung der Zeit, in der man geboren ist und in der man sterben wird, nichts bedrückt so sehr, nichts vernebelt so sehr wie dieses Siegel. Heute verleiht man dem Tod des Individuums eine enorme Bedeutung, man veranstaltet für jeden, der stirbt, eine falsche Tragödie, umso mehr, wenn es gewaltsam ist, und noch mehr, wenn der Betreffende ermordet wird; obwohl der Schmerz dann nicht lange dauert und die Verurteilung auch nicht: Niemand trägt mehr Trauer, und das hat seinen Grund, rasch die Tränen, aber rascher noch das Vergessen. Ich spreche natürlich von unseren Ländern, an anderen Orten der Erde sieht man das nicht so, was bleibt ihnen auch anderes übrig, wenn der Tod bei ihnen Teil des Alltags ist. Aber hier ist er eine Ungeheuerlichkeit, zumindest im Augenblick. XY ist gestorben, was für ein furchtbares Unglück; soundsoviele sind abgestürzt oder in die Luft geflogen, was für eine Katastrophe oder was für eine Gemeinheit. Die Politiker müssen sich vervielfachen, um an Totenmessen und Begräbnissen teilzunehmen und niemanden zu übergehen, der akute, oder ist es der stolze Schmerz braucht sie als Zierde, denn Trost spenden sie nicht und können sie auch nicht spenden, alles ist Aufsehen, Wirbel, Eitelkeit und Geltung. Die Geltung der pompösen und maßlosen Lebenden. Und doch, wenn man es gründlich bedenkt, was für ein Recht hätten wir, was ist der Sinn, daß wir klagen und ein Drama aus etwas machen, das jedes lebende Wesen heimgesucht hat, um es in ein totes Wesen zu verwandeln? Was soll so schwerwiegend sein an etwas so überaus Natürlichem, so Geläufigem? Es kommt in den besten Familien vor, du weißt ja, seit Jahrhunderten, ganz zu schweigen von den schlimmsten, da ist es noch häufiger. Außerdem passiert es die ganze Zeit, und das wissen wir genau, obwohl wir tun, als

Weitere Kostenlose Bücher