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Dein Gesicht morgen 03 - Gift und Schatten und Abschied

Dein Gesicht morgen 03 - Gift und Schatten und Abschied

Titel: Dein Gesicht morgen 03 - Gift und Schatten und Abschied Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Javier Marias
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verhalten mag. Ich vermute, daß in mir der Gedanke schwerer wog, ihm Angst machen zu müssen, oder sein letzter Satz hatte mich verärgert oder das Wort ›Scheiße‹ von vorher, oder ich erinnerte mich an Luisas Auge mit seinen tausend langsamen Farben, ich führte mir jenes Bild in kurzen Abständen vor Augen, das war mir nützlich, es erfüllte mich mit Recht und kalter Wut, es machte mich stark. Es konnte nicht schaden, daß Custardoy den Schmerz erfuhr, ein wenig Schmerz, er griff sich instinktiv an die Seite und rieb sie sich, doch ich rief ihn sofort zur Ordnung: »Hände an den Hut.« Und wen befriedigt es nicht, Befehle zu erteilen, die zwangsläufig befolgt werden, auch das wurde mir klar. Einem Teil meines Bewußtseins gefiel nicht, daß mir das gefiel, aber ich war in dem Moment nicht in der Position, darauf zu achten, der Rest war schon zu sehr beschäftigt, ich hatte etwas zu erledigen, ich konnte nicht auf halber Strecke haltmachen, ich hatte schon angefangen. Wir gingen wieder los, eine Stufe nach der anderen in ordentlichem Tempo, ich war dicht hinter ihm und hielt ihn auf den Treppenabsätzen am Pferdeschwanz fest, damit er nicht die Sekunde ausnützte, in der ich die Waffe nicht frontal auf ihn richten konnte, das Treppenstück hochrannte und sich zu Hause einsperrte, falls er es denn schaffte, blitzschnell aufzusperren (das wäre ihm in keinem Fall gelungen, aber ich zog es vor, wenn er es gar nicht erst versuchte), er mußte es als Demütigung empfinden, daß ich ihm ins Haar griff, ich verzichtete darauf, daran zu ziehen, Gelegenheit hätte ich gehabt. Wir hatten Glück, ich meine, ich hatte es und er nicht, auf dem Weg hinauf in den dritten Stock begegneten wir niemandem, er war einer von denen, die einen Balkon haben.
    »Da wären wir«, sagte er vor seiner Tür. »Was jetzt.«
    »Jetzt sperrst du auf.« Er gehorchte, mit zwei Schlüsseln, einem langen für den Türriegel und einem kurzen für das Schloß. »Wir gehen ins Wohnzimmer, du gehst voraus. Aber keine komischen Bewegungen. Denk an deine Wirbelsäule.« Ich spürte noch immer den Lauf meiner Waffe an seinem Knochen, sauber ausgerichtet, beim Eintreten hatte ich sie zum obersten Halswirbel hochgeführt, ich hatte die Waffe aus der Tasche genommen, als ich die Tür hinter mir zuzog.
    Wir gingen durch einen kurzen Gang und gelangten in ein sehr geräumiges Wohnzimmer oder Atelier, das trotz des bewölkten Tages recht hell war (›Hier ist Luisa gewesen‹, dachte ich sofort, ›dieser Raum ist ihr bestimmt vertraut‹). Sogleich sah ich Bilder auf dem Boden, zu den Wänden hin gedreht, aufeinander gestapelt, gewissermaßen in Dreier- oder Viererreihen, manche waren möglicherweise noch nicht bemalt, noch weiß. Entweder hatte er zahlreiche Aufträge für Porträts, oder er fertigte mehrere Versionen an, bis er zur Endfassung gelangte; gefragt war er jedenfalls und verkaufte offenbar prächtig, in dem Wohnzimmer standen gute Möbel, es zeugte von Wohlstand, von Luxus gar, wobei eine gewisse Unordnung herrschte, ein Kamin machte mich neidisch. Ich sah einige Gemälde an den Wänden, diese freilich mit der Leinwand nach vorne, bestimmt waren sie nicht von ihm, obwohl, wer weiß, wenn er so ein hervorragender Kopierer war, auf den ersten schnellen Blick schien mir, ich könnte einen kleinen Meissonier ausmachen, der einen pfeiferauchenden Herrn zeigte, und ein größeres Porträt von Mané Katz oder jemand Ähnlichem, einem Russen oder Ukrainer mit Pariser Einschlag (wenn es sich um Originale handelte, waren sie gewiß alles andere als billig gewesen, wenn auch nicht so teuer wie diejenigen bei Tupra). Ich sah eine Staffelei, die Leinwand darauf war ebenfalls umgedreht, vielleicht entfernte Custardoy aus seinem Blickfeld, woran er gerade arbeitete, sooft er die Arbeit daran unterbrach, dann mußte er es während seiner Pausen nicht weiter ansehen, möglicherweise war dies das Porträt der Gräfin und ihrer Söhne, das er bereits angefangen hatte. Ich konnte es mir ansehen, wenn ich wollte, ich war Herr über die Zeit und über alles andere. Aber ich tat es nicht, ich hatte anderes zu tun.
    Allmählich mußte er sich umdrehen, und dann würde er mein Gesicht sehen. Ich wußte nicht, ob er mich von irgendwoher erkennen würde, vom Prado oder von unserem gemeinsamen Weg oder von einem der Fotos, die Luisa ihm von mir gezeigt haben mochte, alte Fotos werden ja gerne hergezeigt, als wünschten sich die Leute, vor der Zeit gekannt zu werden, in

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