Dein Gesicht morgen 03 - Gift und Schatten und Abschied
richtete sich eine Woche lang ein, erteilte eine Vielzahl von Anweisungen, entfaltete eine frenetische Energie und stachelte die anderen dort an, sich ihrerseits Winkelzüge und Tricks einfallen zu lassen, um noch größeren Schaden anzurichten. Er war ein enthusiastischer, hyperaktiver, fiebriger und mitreißender Bursche, der für sehr viel Wirbel sorgte, weil er allem Bedeutung zumaß. Seiner Ansicht nach konnte alles, jeglicher Schubser oder jegliches Beinstellen sich als nützlich erweisen. Wenn zum Beispiel in einer Stadt in Deutschland oder im besetzten Europa Morde verübt oder ständig Häuser ausgeraubt wurden; wenn Gebäude und Hotels brannten oder eine Epidemie ausgerufen wurde, und wäre es nur eine Grippewelle, oder wenn die Versorgung in irgendeinem Punkt versagte, ob es um Strom ging, um Gas, Kohle oder Wasser; wenn in den Krankenhäusern Medikamente fehlten oder Lebensmittel verdarben, alles half. Die Anhäufung von Hindernissen und Unglücksfällen oder Verbrechen schafft Unsicherheit, Mißtrauen und Beklemmung, und nichts ist kräftezehrender und aufreibender, als sich um viele Sachen gleichzeitig kümmern zu müssen. Je mehr Durcheinander unter den Nazis herrschte, je mehr sie sich mit Angelegenheiten beschäftigten, die nicht lebenswichtig waren, desto bessere Chancen hatten wir, sie an lebenswichtigen Punkten zu treffen.«
»Wollen Sie damit etwa sagen, daß es gewöhnliche Morde gegeben hat, die in Wirklichkeit keine waren? Daß man bei Ihnen aufs Geratewohl Morde an Zivilisten geplant und ausgeführt hat?«
Wheeler hob die offene Hand und machte auf Höhe der Schläfe eine schwer zu interpretierende Geste, als würde er die Krempe eines imaginären Huts seitlich nach oben schieben.
»Nein, ich glaube nicht. Sefton Delmer war zwar ein Bonvivant und Pragmatiker, der sich nicht übermäßig den Kopf zerbrach und bei der Anwendung subversiver Maßnahmen, die den Feind zermürben und zerstören sollten, kaum Skrupel hatte, und offenbar sah man ihn inmitten dieser ganzen Umtriebe tatsächlich gutgelaunt essen, trinken und lachen, als berührte ihn das alles gar nicht – aber einen Rest Gewissen hatte er. Heißt es. Hemingway zufolge, der während eures Kriegs zur gleichen Zeit wie er als Korrespondent in Madrid war, glich er einem ›rotgesichtigen englischen Bischof‹.« Er sagte ›a ruddy English bishop‹, das Adjektiv kann auch ›rotblond‹ bedeuten. »Andere sahen in ihm eine Ähnlichkeit mit Heinrich VIII ., weil er groß war, zur Dickleibigkeit neigte und vorstehende Augen und einen rötlichen Teint hatte.« ›Florid‹ war hier sein Ausdruck. »Und da Rasierklingen Mangelware waren, ließ er sich während des Kriegs einen Bart stehen. Jedenfalls hat Jefferys ihm das durchaus vorgeschlagen, nicht-politische Morde anzustiften oder auch direkt zu verüben: Heute würde man von Terrorismus sprechen. Aber bestimmt hat man in diesem Punkt nicht auf ihn gehört, und außerdem hatten der SOE und seine Agenten in den verschiedenen Ländern schon von sich aus Ziele genug, vor allem militärische. In Sachen Sabotage und Störmanöver war das anders, da wurden die meisten seiner überbordenden Ideen gut aufgenommen. Valerie hat ihm eine verschafft. Valerie ist etwas eingefallen.« Und als Wheeler diese letzten Sätze sprach, wurde sein Tonfall übergangslos um einiges düsterer. Er nahm zwei weitere Schlucke von seinem Sherry, legte den Stock wieder quer über die Sessellehnen, hielt sich mit nur einer Hand daran fest wie an einem Stab, der ihm Halt geben sollte, und fuhr ohne zu stocken fort: Er hatte sich entschlossen, mir davon zu erzählen, und das würde er auch tun. »In jenen Tagen wollte jeder helfen, Jacobo. Es war unglaublich, wie das Land zusammenrückte, erst um durchzuhalten, dann um die Nazis zu vernichten. Für uns, die wir das erlebt haben, waren die Ereignisse in der Thatcher-Ära, mit diesem lächerlichen Falklandkrieg und der so großspurigen und fanatischen Stimmung im Land, eine Schande, ein grotesker Abklatsch jenes anderen Kriegs, etwas Aufgesetztes, eine Farce. Denn gerade damals, im Weltkrieg, gab es überhaupt keine Großspurigkeit und keinen Schmierenpatriotismus.« Wheeler sagte »patriotismo de vaudeville« und sprach das Wort französisch aus, wie auch mein Vater es getan hätte. »Die Leute haben standgehalten, aber sich damit nicht großgetan, Prahlerei gab es fast gar nicht. Alle taten, was in ihrer Macht stand, und bis auf wenige Ausnahmen rühmte sich niemand
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