Dein Gesicht morgen 03 - Gift und Schatten und Abschied
irgendein intuitives Wissen oder aber eine Art Verzauberung.
Wheeler trank jetzt einen großen Schluck Wasser, fast unbewußt, kein Wunder, daß er durstig war, er hatte ziemlich lange geredet und war am Ende in seine geschwätzige Geistesabwesenheit abgeglitten. Außer in einem bestimmten Moment hatte ich die ganze Zeit über befürchtet, daß er beschließen könnte, aufzuhören, aus Erschöpfung oder aufgrund eines längeren Anfalls von Aphasie oder weil er es auf einmal bereute, mir so viel zu erzählen. Er hatte mir nie so viel von seinem früheren Leben erzählt, eigentlich fast nichts. ›Warum tut er es dann jetzt?‹, dachte ich. ›Ich bin doch nicht allzusehr in ihn gedrungen, habe ihn auch nicht gebeten, ihm nicht geschmeichelt. Ich forsche nicht aus. Ich werde ihn danach fragen müssen, bevor wir auseinandergehen, wenn sich mir eine Gelegenheit dafür bietet.‹ Diese Geschichten interessierten mich brennend, aber wenn ich zuließ, daß er in das Südostasien seiner Missionen abdriftete, riskierte ich, daß er nicht zurückkam oder daß er es allzu spät tat, wenn Frau Berry uns zum Mittagessen rief wie eine Mutter ihre Kinder. Ich glaubte nicht etwa, daß Wheeler in ihrer Anwesenheit schweigen würde oder daß er nach all den Jahren viele Geheimnisse vor ihr hatte, jedenfalls nicht in Bezug auf Valeries Tod, von dem ich in diesem Augenblick am dringendsten erfahren wollte, vielleicht, weil ich vor kurzem bei meiner Frau gewesen war und gespürt hatte, daß sie in Gefahr schwebte; aber mit dem Erzählen muß man aufpassen, manchmal läßt es keine Zeugen zu, nicht einmal stumme, und wenn welche da sind, setzt die Erzählung aus. Frau Berrys Klavier war immer noch zu hören, sie spielte wieder recht fröhliche Musik, mir schien, daß es sich diesmal um Stücke des italienischen Komponisten Clementi handelte, der ebenfalls lange Zeit in London gelebt hatte, noch ein Exilierter, Stücke aus seinem verbreiteten Lehrbuch Gradus ad Parnassum, oder vielleicht waren es Sonaten, ein weiterer von Mozart in den Schatten gestellter Musiker, und jener – niemals ein guter Kollege, wie es schien – hatte ihm zu allem Überfluß eine mechanische Geschicklichkeit zugeschrieben und seinem Ruf damit sehr geschadet, womöglich weil Clementi es gewagt hatte, sich in Wien vor dem Kaiser mit ihm zu messen, die beiden als virtuose Interpreten.
»Was ist aus Rendl geworden?« Ich entschloß mich, Peter an den Ausgangspunkt zurückzuholen. Aber ich wagte es nicht mehr, ihn direkt auf Valerie anzusprechen. Wenn ich in ihn drang, konnte ich sie letzten Endes ebenso verlieren, wie wenn ich es nicht tat.
»Ach ja, entschuldige. Genau deshalb erzähle ich nicht so gerne und in meinem jetzigen Zustand schon gar nicht. Ich komme oft vom Thema ab, und ich weiß nicht, ob diese Verästelungen von Interesse sind. Idealerweise wären sie es, nicht wahr, ebensosehr wie der Stamm.«
»Sie sind hochinteressant, Peter. Die Sache mit diesem ›Carbuncle‹ … davon hatte ich natürlich noch nie gehört. Aber ich bin doch neugierig, was aus Rendl geworden ist.«
»Weder du hattest davon gehört noch sonst jemand. Bis heute«, erwiderte er, und seinem Tonfall nach schien er die Bedeutung dieses Sachverhalts gebührend hervorheben zu wollen. »Nicht einmal Mrs. Berry, auch Toby nicht. Und auch nicht Tupra, der seine Nase in alles Vergangene steckt. Wie ich dir, glaube ich, schon einmal gesagt habe, bin ich im Prinzip noch nicht befugt zu erzählen, worin meine ›Sonderaufträge‹ zwischen 1936 und 1946 bestanden haben, von einigen späteren auch nicht, und ich habe mich immer daran gehalten. Bis heute. Natürlich ist es in meinem Fall so ironisch wie geschmacklos, ›noch‹ zu sagen, die Erlaubnis wird mich kaum rechtzeitig erreichen. In Sachen ›Carbuncle‹ gibt es noch einen weiteren Grund, das für mich zu behalten, und zwar haben meine Vorgesetzten nie erfahren, daß ich ihn laufen ließ. Nicht daß mir etwas Nennenswertes passiert wäre, weil ich diesen Befehl mißachtet hatte, wir waren da nicht wie die Deutschen oder die Russen, und ich hatte niemanden gefährdet. Aber ich habe in meinem Bericht doch lieber behauptet, ich hätte ihm während der Überfahrt ein feuchtes Grab verschafft, so wie man es mir nahegelegt hatte. Schließlich würde der Kerl so verschwunden, so unauffindbar sein, als ob er mit einer absurden Golftasche um den Hals am Grund der Straße von Malakka gelegen hätte, ich habe ihn tatsächlich genötigt, eine
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