Dein Gesicht morgen 03 - Gift und Schatten und Abschied
im Rang eines Oberstleutnants. Ich hatte einen indischen Agenten bei mir, der zunächst von den Japanern angeworben worden war, bevor wir ihn unter Androhung sofortiger Exekution ›umgedreht‹ hatten; ich hatte ihn in Colombo vernommen und auf seine Aufgabe vorbereitet. Der Krieg ging dem Ende entgegen, und so wurde mir mitgeteilt, ich solle ihn auf der Reise loswerden, er sei nicht mehr von Nutzen.« ›To dispose of him‹, sagte er, und in diesem Kontext glaubte ich sehr gut zu verstehen, was damit gemeint war. »Man ließ durchblicken, ich sollte ihm ein feuchtes Grab verschaffen.« Hier sagte er wörtlich ›a wa-tery grave‹, ›wässerig‹, und das war nun ganz eindeutig. »Sein Deckname lautete ›Carbuncle‹, und auch er rechnete damit, da bin ich sicher, auf der Überfahrt eben das zu erhalten. Möglicherweise führte gerade seine Überzeugtheit, fast schon Ergebenheit dazu, daß ich nicht den richtigen Moment fand. Er hatte uns und die Japaner gegeneinander ausgespielt, wie alle Doppelagenten, aber letztlich hatte eine seiner Lügen uns geholfen, im Mai 1945 vor Penang den japanischen Schweren Kreuzer Haguro abzufangen und zu versenken. Am Ende hatte unser Hinterhalt sich auf ihn gestützt. Ich weiß nicht recht, warum ich das getan, warum ich meinen Befehl verweigert habe. Mir war nicht ganz klar, wieso ich ihn loswerden sollte, und auch bei den Geheimdiensten wimmelte es von Schwachköpfen. Wenn er uns nicht mehr von Nutzen war, so nützte er den Japanern noch weniger: Wäre er ihnen in die Hände gefallen, so hätten sie ihm eine schnelle Grabstatt besorgt, ob feucht oder trocken, oder ihn irgendwo ausgesetzt, damit ihn die Schweine fraßen. Ich hatte gesehen, wie sie auf den Andamanen vorgegangen waren: Sie hatten einen Teil der eingeborenen Bevölkerung auf Barkassen verladen und diese dann von der Garnison aus mit Kanonen beschossen, ein Scheibenschießen, als sie sich schon in tiefen Gewässern fernab der Küste befanden; dazu Enthauptungen, entsetzliche Vergewaltigungen, abgetrennte Brüste, aber nicht mit der Machete oder dem Schwert, sondern mit der Hand, eine Kolonne Soldaten, die einer nach dem anderen mit aller Kraft zuschlugen, in Erfüllung der Anweisungen eines Befehlshabers, dessen jahrelange Greueltaten während der anhaltenden Besatzung der Inseln ich nach der Befreiung durch uns untersuchen mußte. Ich hatte es satt … Heute heißt es, liest man manchmal, daß Gewalt süchtig macht oder daß man abstumpft, sobald man Gewalt ausübt oder dabei zusieht, angeblich gewöhnt man sich daran. Meiner Erfahrung nach ist das völlig falsch, ein Märchen von Dummköpfen für Dummköpfe. Man kann ein gewisses Ausmaß davon ertragen, mehr sogar, als man sich vorstellen mag, aber am Ende wird man ihrer nicht nur überdrüssig, sie erschöpft und zersetzt … und sie wühlt auf, und man kann sie nicht vergessen … Als wir in Singapur anlegten, ging ich mit ›Carbuncle‹ von Bord, er trug noch Handschellen, sehr unangenehm ist das, hast du es mal ausprobiert? Ich warf ihm von oben einen verstohlenen Blick zu, er war viel kleiner als ich. Er wirkte wirklich überrascht, das Ziel erreicht zu haben und noch einmal einen Fuß an Land zu setzen. Da zog ich den Schlüssel hervor, schloß die Handschellen auf, während er mich fassungslos ansah, und sagte: ›Verpiß dich!‹« ›Fuck off!‹, sagte Peter tatsächlich, der Ausdruck ist noch etwas gröber. »Er machte sich aus dem Staub, und ich sah ihn in der Menschenmenge am Hafen verschwinden. Ja, ich hatte es sehr satt … und es erwartete mich noch mehr …«
E r verstummte, sah auf den friedlichen Fluß hinaus, der mir viele Jahre zuvor bei seinem Bruder Rylands vertraut geworden war, als ob er dort noch seinen Gefangenen ›Carbuncle‹ sehen könnte, wie er sich an dem fernen Kai unter die Leute mischte. Ich hatte diesen Blick mehr als einmal bei meinem Vater gesehen und auch bei ihm, als er mit bedächtigem Schritt Frau Berry und mir bis zum Fuß der Treppe gefolgt war, um oben auf dem ersten Absatz den Punkt zu betrachten, auf den ich zeigte, während meiner Fiebernacht in seinem Haus hatte ich dort einen Blutfleck gefunden, nachdem ich allein geblieben war und Bücher gewälzt hatte: weit geöffnete Augen, die ihm einen widersprüchlichen Gesichtsausdruck verliehen, fast wie bei einem Kind, das etwas erstmals entdeckt oder sieht, etwas, das es nicht erschreckt oder abstößt, aber auch nicht anzieht, sondern Verblüffung erzeugt oder
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