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Dein Gesicht morgen 03 - Gift und Schatten und Abschied

Dein Gesicht morgen 03 - Gift und Schatten und Abschied

Titel: Dein Gesicht morgen 03 - Gift und Schatten und Abschied Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Javier Marias
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Bereich mehr arbeiten könnte, der mich interessiert, meine Zukunft zu ruinieren, und bei einem jungen Menschen ist das nicht so einfach, die Welt dreht sich so oft …, daß sie sich, ich weiß nicht, immer wieder auf den Kopf stellt. Ich fürchte vor allem, was sie ihm antun könnten, physisch oder moralisch oder biographisch. Er geht so selbstgewiß durchs Leben, daß er nicht begreifen würde, was ihm widerfährt. Das wäre das Schlimmste, seine Verstörung, er würde sich nicht mehr erholen. Ich weiß nicht, sie würden ihm sein restliches Leben ruinieren oder ihm einen Teil davon abschneiden. Sofern sie nicht beschließen, es ihm zu nehmen, dreimal auf Holz, und ich kreuze die Finger.« Und sie klopfte darauf und kreuzte die Finger, vor meinen Augen. »Einen alten Mann ganz und gar zu vernichten, das ist letzten Endes leicht. Erst recht, ihn umzubringen, ich kreuze die Finger.« Und in der Tat kreuzte sie sie erneut. »Er stürzt ja schon, wenn man ihm bloß einen Stoß versetzt.«
    Sie schwieg einen Augenblick und betrachtete ihr leeres Glas, doch dieses Mal wollte sie es mir nicht näherschieben oder kam nicht auf den Gedanken. Sie strich mit denselben beiden Fingern über den Fuß des Glases. Es war, als sähe sie in ihm ihren fröhlichen, frivolen und schwachen Vater, man mußte es nur umstoßen, damit es in Stücke zerbrach.
    »Und was kann ich in der Sache unternehmen? Was habe ich mit all dem zu tun?«
    Sie hob sofort den Blick und schaute mich mit ihren flinken, lebhaften Augen an, sie waren kastanienbraun und jung und sicher noch nicht sehr belastet mit aufdringlichen Bildern, die nicht weichen.
    »Der Mann, den du übermorgen oder überübermorgen oder spätestens nächste Woche deuten sollst«, antwortete sie, wobei sie mir bei der zweiten Frage fast ins Wort fiel, wie jemand, der lange Zeit im Nebel einen Leuchtturm zu sehen hofft und ihn endlich erblickt und es laut herausruft, »das ist dieser Strohmann, unser Problem, das Problem. Und auch er ist ein Engländer mit ausländischem Namen. Er heißt Vanni Incompara.«


    V anni oder Vanny Incompara – unter diesem Namen kenne man ihn, sagte sie, obwohl sein Vorname offiziell John laute – war zweifelsfrei Engländer, sie war nicht sicher, ob von Geburt – er war anscheinend nicht leicht zu greifen, sie sammelte gerade Informationen über seine Vergangenheit und stieß bei ihren Nachforschungen auf unerwartete dunkle Stellen – oder weil er die Staatsbürgerschaft früh mithilfe einflußreicher Kontakte oder unter irgendeinem diskreten, seltsamen Vorwand erworben hatte, und so war ihr nicht bekannt, ob er ein Einwanderer der ersten Generation war oder der zweiten, wie Tupra und sie, die sie beide schon in London geboren waren, sie wußte nicht, ob Bertram in Wirklichkeit der dritten oder der vierten oder der x-ten angehörte, vielleicht war seine Familie schon seit Jahrhunderten auf der Insel etabliert. Sie hatte ihn nie danach gefragt, auch nicht nach dem Ursprung seines fremdartigen Nachnamens, sie wußte nicht, ob er finnisch, russisch, tschechisch, armenisch oder türkisch war, wie ich ihr gegenüber vermutete und wie mir gegenüber Wheeler vermutet hatte, als er mir zum ersten Mal von dem Mann erzählte, der mein Chef werden sollte, und sich ein wenig über seinen Namen lustig machte, damals kannte ich ihn noch nicht, noch ob er vielleicht indisch war, wie sie plötzlich bemerkte, in Wirklichkeit, sagte sie, habe sie keine Ahnung, mal sehen, ob sie irgendwann daran denken würde, dem nachzugehen, er erwähne seine Herkunft nie, weder lebende noch tote Verwandte, weder ferne noch nahe, das heißt Blutsverwandte – sie dachte vermutlich an Beryl, als sie das präzisierte, ich jedenfalls dachte an sie –, als wäre er durch Spontanzeugung auf die Welt gekommen; natürlich habe er auch keinen Grund, das zu tun, in England neige man ja dazu, in persönlichen Belangen zurückhaltend, wenn nicht verschlossen zu sein, er spreche zwar gelegentlich über sich selbst und über das, was er erlebt habe, aber immer vage, ohne den Ort oder die Zeit der angedeuteten Ereignisse genauer zu bezeichnen, jedes getrennt vom anderen und fast ohne Zusammenhang, als würde er uns nur kleine Bruchstücke zerstörter Gedenksteine zeigen.
    Es war möglich, daß dieser John Incompara vor nicht allzu vielen Jahren nach England gekommen war, das würde erklären, warum er sich noch immer gerne bei der Verkleinerungsform seines italienischen Namens rufen ließ, Vanni

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