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Dein Gesicht morgen 03 - Gift und Schatten und Abschied

Dein Gesicht morgen 03 - Gift und Schatten und Abschied

Titel: Dein Gesicht morgen 03 - Gift und Schatten und Abschied Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Javier Marias
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ihn niemals ein, er nimmt niemanden davon aus. Nicht einmal seine Mutter, wenn er noch eine Mutter hat, ich habe ihn nie von seinen Angehörigen reden hören, das habe ich dir schon gesagt. Und es gibt in diesem Fall ein weiteres Element: Nach dem, was ich weiß, muß Incompara schon in zu vielen Bereichen seine Hände im Spiel haben. Bertie wird mit in Betracht ziehen, daß du vorherigen, sagen wir mal, Kontaminationen am wenigsten ausgesetzt bist, weil du noch nicht lange in London lebst.«
    Ich schaute sie einen Moment an und schenkte ihr dann das Glas voll, das ich ihr zunächst vorenthalten hatte, das vierte. Ich sah, daß sie müde war, oder vielleicht begann sich die Anstrengung des Überzeugens und Bittens bemerkbar zu machen, so etwas kostet Mühe und macht angespannt und erschöpft, und es gibt einen Augenblick, in dem man, auch wenn man den anderen mit noch so großem Schwung angegangen hat, am Gelingen und am Erfolg zweifelt. Man denkt, daß alles vergeblich ist, daß die Leute fähig sind, sich zu weigern, oder sich darin gefallen, sich zu weigern, und es auch tun und dafür immer eine unanfechtbare Entschuldigung finden: ›Ich habe zur Zeit kein Geld‹, ›Ich möchte da nicht hineingezogen werden‹, ›Du verlangst zuviel von mir, versteh das doch‹, ›Das wird nicht gutgehen, das liegt mir gar nicht‹, ›Ich muß da loyal bleiben‹, ›Ich kann ein solches Risiko nicht eingehen‹, ›Wenn es nur um mich ginge, würde ich es tun, aber es sind andere beteiligt‹. Oder aber noch deutlicher: ›Was bekomme ich dafür?‹ Vielleicht hatte die junge Pérez Nuix plötzlich das Vertrauen verloren und fragte sich bereits, für welche dieser Formeln ich mich entscheiden würde. Ja, was bekam ich dafür. Ich sah den Nutzen nicht, und sie wußte gewiß, daß ich ihn nicht sehen konnte, weil es für mich keinen gab. Sie hatte diesen Weg bis jetzt noch nicht mal eingeschlagen, sie hatte nicht einmal versucht, sich da etwas auszudenken. Ich betrachtete erneut ihre Laufmasche – betrachtete ihre immer entblößteren Beine – in diesen Momenten ihrer Zerstreuung, fast ihrer Mutlosigkeit. Ich hoffte, daß sie etwas tun würde, bevor ihr die Strümpfe komplett rissen (das wäre ein Schreck) oder ihr schlaff herunterhingen (das ist abstoßend) oder ihr plötzlich zu Boden rutschten (das ist unangenehm), keine der drei Möglichkeiten gefiel mir, sie würden den ganzen Zauber des zerrissenen, aber noch straffen Gewebes zerstören. Und so hob ich das Kinn und wies damit auf ihre Oberschenkel und sagte (es rutschte mir heraus, mein Wille war nicht beteiligt oder tat, als wäre er es nicht):
    »Du hast eine Riesenlaufmasche in deinem Strumpf, ich weiß nicht, ob du das gemerkt hast. Das wird während des Spaziergangs passiert sein. Oder es war der Hund.«
    »Ja«, antwortete sie unbefangen, ohne zusammenzuzucken, »ich habe sie vor einer Weile bemerkt, aber ich wollte dich nicht unterbrechen. Ich geh mal einen Moment ins Bad, besser, ich zieh sie aus. Wie peinlich.« Sie stand auf (leb wohl, Anblick) und griff nach der Handtasche, der Hund richtete sich auf, wollte ihr folgen, sie bremste ihn auf englisch mit zwei Worten (es war natürlich ein einheimischer Hund), sie überzeugte ihn, liegenzubleiben, und verschwand. ›Wie peinlich‹, das sagte sie schon vom Flur her, außerhalb meines Gesichtsfeldes. Aber ich merkte ihr die Peinlichkeit nicht an, ich spürte sie nicht. ›Sie ist gar nicht so müde, so mutlos oder so niedergeschlagen‹, dachte ich. ›Mich unterbrechen? Aus Verwirrung oder Zerstreutheit kann ihr das nicht passiert sein. Nicht einmal wegen des Weins. Sie ist es, die redet, die erzählt, die hergekommen ist und bittet, obwohl sie letzteres eigentlich noch nicht getan hat, weder im Ton noch mit den entsprechenden Worten oder durch Zudringlichkeit oder Hartnäckigkeit. Doch trotz allem ist sie die Bittstellerin, sie will nur nicht riskieren, mich ablehnend zu stimmen und das Gegenteil von dem zu bewirken, was sie erreichen will. Sie bittet ohne Pathos und ohne sich zu demütigen, fast, als würde sie nicht bitten. Sie tut es auch nicht hochmütig. Als würde sie den Fall einfach vortragen.‹
    Als sie zurückkam, trug sie keine Strümpfe mehr, sie gehörte also nicht zu diesen umsichtigen Frauen, die Ersatzstrümpfe bei sich haben; oder wenn doch, dann hatte sie beschlossen, sie nicht anzuziehen, die Stiefel auf der Haut, es war nicht kalt in der Wohnung. Sie schlug die Beine übereinander, als

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