Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Dein Gesicht morgen / Fieber und Lanze

Dein Gesicht morgen / Fieber und Lanze

Titel: Dein Gesicht morgen / Fieber und Lanze Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Javier Marías
Vom Netzwerk:
traditionellen Geschmack der Männer oder der meisten von ihnen hartnäckig behalten. »Guten Tag«, sagte sie ebenfalls in neutralem Ton. Es waren nur einige Sekunden (fünf, sechs, sieben, acht; und neun), aber die Gelassenheit und Ungezwungenheit, die wir in ihrem Verlauf an den Tag legten, ließen mich an jenen Augenblick denken, in dem meine Frau Luisa kurz nach der Geburt des Jungen halb entkleidet innehielt (den Oberkörper entblößt, die Brüste vergrößert durch die Mutterschaft, sie war im Begriff, zu Bett zu gehen) und mir auf ein paar absurde Fragen antwortete, die ich ihr über unser neugeborenes Kind stellte (»Glaubst du, daß dieses Kind immer mit uns leben wird, solange es ein Kind oder sehr jung ist?«). Sie war dabei, sich auszuziehen, in einer Hand hielt sie noch die Strümpfe, die sie gerade abgestreift hatte, in der anderen das Nachthemd, in das sie schlüpfen wollte (»Natürlich, was für eine dumme Frage, mit wem denn sonst?«; und sie hatte hinzugefügt: »Wenn uns nichts passiert«), während die junge Nuix in einer Hand das Handtuch hielt, mit dem sie sich nicht zu bedecken gedachte und sich nicht bedeckte, und die andere ohne etwas in die Höhe hielt, wie eine antike Statue. Beide waren halb nackt (»Was meinst du damit?« hatte ich Luisa damals gefragt), und die Nacktheit der einen hatte nichts mit der Nacktheit der anderen zu tun (ich meine für mich, denn faktisch, objektiv waren sie ähnlich): die Nacktheit meiner Frau war für mich etwas Bekanntes und sogar Gewohntes, aber sie ließ mich deshalb durchaus nicht gleichgültig, und daher ruhte mein Blick selbst in diesem flüchtigen, häuslichen Augenblick auf ihren vergrößerten Brüsten; aber es war normal, daß wir weitersprachen, als wenn nichts wäre, daß wir deshalb das Gespräch nicht unterbrachen (»Nichts Schlimmes, meine ich«, hatte sie geantwortet); die Nacktheit meiner jungen Arbeitskollegin dagegen war neu, unerwartet, ungewöhnlich, in keiner Weise antizipiert und sogar unverdient und verstohlen aus meiner Sicht, Ergebnis eines Mißverständnisses oder einer Unvorsichtigkeit, und deshalb schaute ich sie anders an, ohne Schamlosigkeit oder Lüsternheit, aber mit einer Aufmerksamkeit, die Entdecken und Erinnern zugleich war, mit den scheinbar verschleierten Augen unserer Zeit, die in England immer gang und gäbe waren, wo wir uns befanden und wo dieses Schauen, das nicht schaut, oder dieses Nicht-Schauen, das schaut, entwickelt und perfektioniert wird, ein Schauen, dem in diesem Land nur Tupra entging oder entfloh, wie ich hatte feststellen können; und sie ließ mich nicht schauend schauen, sie versuchte nicht, es zu verhindern, aber es lag weder Schamlosigkeit noch Exhibitionismus in ihren Augen oder in ihrer Haltung, und als sie etwas hinzufügte, eine Erklärung, die ich nicht erwartete und die nicht nötig war und die, obwohl es der erste Satz war, den sie an diesem Tag an mich richtete, dieses Mal nicht zuvor in ihrem Kopf konstruiert worden zu sein schien (»Ich habe hier geschlafen, na ja, geschlafen eher weniger, ich habe die Nacht über einem verflixten Bericht gebrütet«), klangen ihre Stimme und ihr Ton nicht sehr viel anders als die eines mir wohlbekannten ehelichen Zusammenlebens. Und so schloß ich endlich die Tür nach Ablauf der übrigen Sekunden (neun, zehn, elf und zwölf: »Aha, klar, ich bin früh gekommen, um einen fertig zu machen«, sagte ich meinerseits, nicht so sehr, um mich zu rechtfertigen, als um eine späte, implizite Entschuldigung zu formulieren) mit einer einzigen entschlossenen, fast ungestümen Bewegung (ich hatte den Knauf nicht losgelassen) und zog mich in mein Büro zurück, das nebenan lag und das ich mit Rendel teilte, sie teilte ihres mit Mulryan. Sie gehört einer anderen Generation an, die junge Nuix, sagte ich mir; ich sagte mir, daß sie die Sommermonate bestimmt mit freiem Oberkörper an den Stränden oder in den Schwimmbädern Spaniens verbrachte, daß sie es gewohnt sein mußte, so gesehen und bewundert zu werden, daß ihre Scham geringer war. Ich dachte auch, daß wir Landsleute waren und daß das im Ausland fast einer Verwandtschaft gleichkommt: es schafft geheimes Einverständnis und ungewohnte Solidaritätsgefühle und läßt grundlos Vertrauen und sogar Freundschaften und Liebesverhältnisse entstehen, die undenkbar, fast abwegig wären im gemeinsamen Herkunftsland (eine Freundschaft mit De la Garza, mit Rafita dem Obertrottel). Aber sie war eher englisch als

Weitere Kostenlose Bücher