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Dein Gesicht morgen / Fieber und Lanze

Dein Gesicht morgen / Fieber und Lanze

Titel: Dein Gesicht morgen / Fieber und Lanze Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Javier Marías
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Erziehung und Vorlieben so britisch waren wie der britischste Brite, gekaufte oder fanatische und verhexte Leute, verräterische Leute, kranke und infizierte Leute. Man mißtraute jedem, vor allem, nachdem die Kampagne begonnen hatte, mit unterschiedlichen praktischen Ergebnissen (sie bekämpfte etwas Unbesiegbares), aber erheblicher Auswirkung auf die Stimmung oder die Psyche: man verdächtigte den Nachbarn, den Verwandten, den Lehrer, den Kollegen, den Ladenbesitzer, den Arzt, die Ehefrau, den Ehemann, viele nutzten den in diesem Klima leicht aufkommenden, verbreiteten, begreiflichen Argwohn, um den verhaßten Ehepartner aus den Augen zu verlieren. Auch wenn man nicht beweisen konnte, daß man mit einem verdeckten oder eingeschleusten deutschen Agenten zusammenlebte, schien der bloße unbezwingbare Zweifel Anlaß genug zu sein, um das Verbleiben an der Seite des vermeintlichen entlarvten Monstrums unmöglich zu machen, oder, was dasselbe ist, ein ausreichender Grund, um sich scheiden zu lassen. Wie konnte man Nacht für Nacht sein Kissen mit jemandem teilen, dem man so abgrundtief mißtraute, mit jemandem, der so furchterregend war, der nicht zögern würde, uns umzubringen, wenn er sich entdeckt oder bedroht fühlen sollte? Das war die Vorstellung des feindlichen Spions, gleich ob jung oder alt, Frau oder Mann, Brite oder Ausländer: die Vorstellung von erbarmungslosen Individuen, die weder Skrupel noch Grenzen kannten, stets bereit, egal ob in der Etappe oder an der Front, ob in der kollektiven Moral oder beim Kriegsmaterial, ob bei der Zivilbevölkerung oder bei den Truppen, den größtmöglichen indirekten oder direkten Schaden anzurichten. Sie war im übrigen nicht falsch, diese Vorstellung. Die Leute übertrieben ihre Ängste, um sie im Grunde nicht zu glauben, um letztlich zu dem Schluß zu kommen, daß nichts so böse sein konnte, wie man es sich vorstellte, das tun wir alle, absichtlich das Schlimmste denken, aber ohne klares Bewußtsein, auf paranoide, unsinnige Weise, wir stellen uns das Schaurigste vor, um es am Ende innerlich auszuschließen. Am Schluß des Prozesses, dieser schrecklichen geistigen Reise, nennen wir es so, sagen wir uns unveränderlich: bah, es wird schon nicht so schlimm sein. Das komische oder das unheimliche ist, daß die Wahrheit es gewöhnlich sehr wohl ist: sie wird so schlimm sein oder noch mehr. Nach meiner Erfahrung, nach meinen Kenntnissen, stimmt die Wirklichkeit oft mit der grausamsten aller Ahnungen überein und übertrifft sie gelegentlich sogar noch, das heißt, sie stimmt genau mit dem überein, was auf dem Gipfel oder Höhepunkt der Angst als übertriebene, verrückte Ausgeburt der Furcht und der Phantasie verworfen wurde. Natürlich töteten die zahlreichen Naziagenten auf britischem Boden jeden, der getötet werden mußte oder die geringste Gefahr für sie darstellte, ebenso wie die unseren auf dem besetzten Kontinent, hauptsächlich die von der SOE, aber nicht nur sie. In Friedenszeiten ist es völlig unmöglich, sich vorzustellen oder zu verstehen, was ein Krieg ist, tatsächlich ist er unvorstellbar, nicht einmal mehr die bereits erlebten sind erinnerbar, die bereits stattgefunden haben und noch dazu genau hier, an denen man sogar teilgenommen oder Anteil hatte; so wie es in Kriegszeiten der Frieden ist, der nicht erinnerbar, nicht vorstellbar ist. Die Leute sind sich nicht bewußt, bis zu welchem Grad das eine das andere negiert, es aufhebt, es abstößt, es aus unserer Erinnerung tilgt und aus unserem Vorstellungsvermögen und unserem Denken vertreibt (wie Schmerz und Lust, wenn sie nicht gegenwärtig sind), oder es allenfalls in Fiktion verwandelt, man hat das Gefühl, daß man niemals wirklich gekannt oder erfahren hat, was zur jeweiligen Zeit abwesend ist; und dieses Abwesende, wenn es zuvor dagewesen ist, stellt sich anders dar, gleicht nicht der Vergangenheit oder dem Rest des bereits Zurückliegenden, sondern den Romanen und den Filmen. Es wird für uns irreal, es ist eine Erfindung. Und was den Krieg betrifft, so erscheint uns eine derartige Verschwendung unfaßbar.« Ich war versucht, Wheeler zu fragen, ob auch er getötet hatte im MI6 (Fleischsack, Blutfleck), vielleicht in der Karibik oder in Westafrika oder in Südostasien; oder vorher in Spanien. Aber die Versuchung hatte keine Zeit, Gestalt anzunehmen, denn er machte nur eine winzige Pause, bevor er hinzufügte: »Es kostet uns unsägliche Mühe, danach, wenn der Krieg zu Ende ist, daran zu glauben;

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