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Dein Gesicht morgen / Fieber und Lanze

Dein Gesicht morgen / Fieber und Lanze

Titel: Dein Gesicht morgen / Fieber und Lanze Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Javier Marías
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anzuschauen, geschmeichelt, während er sich nach links wandte, um aus meinem Blickfeld zu verschwinden:
    »Was für ein Unsinn. Eine großartige Idee.«

E s sprechen die Bücher inmitten der Nacht wie der Fluß spricht, ruhig oder lustlos, oder die Unlust erwächst aus der eigenen Müdigkeit und Schläfrigkeit und den eigenen Träumen, obwohl man sehr wach ist oder wach zu sein glaubt. Man tut wenig dazu oder so glaubt man, man hat das Gefühl, fast mühelos und ohne viel Aufhebens in die Materie einzudringen, die Wörter gleiten sanft oder matt dahin, ohne das Hindernis der Wachsamkeit des Lesers, der Heftigkeit, sie werden passiv oder wie ein Geschenk aufgenommen und scheinen etwas zu sein, das nicht zählt noch Mühe kostet, noch Nutzen bringt, auch ihr Rauschen ist ruhig oder geduldig oder schwach, auch sie sind ein Verbindungsfaden zwischen Lebenden und Toten, wenn der gelesene Autor bereits verstorben ist oder es nicht ist, aber vergangene Ereignisse interpretiert oder referiert, in denen kein Leben mehr pulsiert und die dennoch verändert oder verleugnet werden können, sich als Schand- oder Heldentaten verstehen lassen, und das ist ihre Art, weiter zu leben und weiter zu verstören, ohne uns jemals zur Ruhe kommen zu lassen. Und inmitten der Nacht gleicht man selbst am meisten diesen Ereignissen und diesen Zeiten, die sich nicht mehr wehren können gegen das, was man über sie sagt, gegen die Erzählung oder die Analyse oder die Spekulation, deren Gegenstand sie sind, genau wie die wehrlosen Toten, wehrloser noch als zu Lebzeiten und für sehr viel mehr Zeit, das Nachleben ist unendlich viel länger als die wenigen, ruchlosen Tage jedes Menschen. Auch damals, als sie noch in der Welt waren, konnten viele von ihnen nicht die Irrtümer aufdecken oder die Verleumdungen zurückweisen, oft hatten sie keine Zeit dazu oder wußten nicht einmal von ihnen, konnten es gar nicht versuchen, weil sie immer hinter ihrem Rücken geschahen. »Alles hat seine Zeit, um geglaubt zu werden, selbst das Unwahrscheinlichste und Unsinnigste«, hatte Tupra gesagt, ohne seinem Satz die geringste Bedeutung zu geben. »Manchmal dauert sie nur Tage, diese Zeit, aber manchmal dauert sie für immer.«
    Andrés Nin war absolut keine Zeit vergönnt, die Verleumdungen zu entkräften oder zu erleben, daß sie später von anderen widerlegt wurden, wie Hugh Thomas in seinem Handbuch erzählt, hier war es leicht, die Angaben zu finden, hier gab es wohl ein Namensregister, nicht so bei Orwell in der Tat, erstaunlich, daß Wheeler sich an ein solches Detail erinnerte, oder vielleicht war es reine Deduktion, weil In Katalonien, ein Buch aus dem Jahr 1938, mitten im Krieg veröffentlicht wurde, niemand kümmerte sich damals bloß um die Namen. Als allererstes suchte ich trotzdem für alle Fälle den Nachnamen Wheeler bei Thomas, nichts einfacher für Peter, als mich in dieser Hinsicht belogen zu haben, und so sicherzustellen, daß ich ihn nicht finden würde, wenn ich ihm glaubte und mir nicht einmal die Mühe machte, nachzuschauen. Aber es stimmte, er stand nicht da, auch Rylands nicht, ich überprüfte es mechanisch, es kostete mich keine Mühe. Was für einen verdammten Nachnamen mochte Wheeler in Spanien benutzt haben, jetzt hatte er es geschafft, daß die Neugier mich gepackt hielt. Vielleicht war irgendein Abenteuer von ihm in diesem Buch oder bei Orwell wiedergegeben oder in irgendeinem anderen der vielen, die er im Westregal in seinem Arbeitszimmer über den Bürgerkrieg hatte, wie ich sah (ich hielt mich zu lange mit ihnen auf), und es ärgerte mich, daß ich, wenn dem so war, es nicht nachlesen konnte, obwohl das Abenteuer publik war. Nicht publik war der Name oder der Deckname, viele Leute benutzten einen während des Krieges. Ich erinnerte mich, wer Nin war, aber nicht an die letzten Wechselfälle seines Lebens, auf die Tupra zweifellos angespielt hatte. Er war Trotzkis Sekretär in Rußland gewesen, wo er fast die ganzen zwanziger Jahre, bis 1930, gelebt hatte; aus dieser Sprache, dem Russischen, hatte er nicht wenig ins Katalanische übersetzt, auch etwas ins Spanische, angefangen bei Die Lehren des Oktober und Die permanente Revolution seines vorübergehenden Protektors und Chefs, bis hin zu Tolstois Anna Karenina und Tschechows Eine dramatische Jagdpartie und Boris Pilnjaks Die Wolga mündet ins Kaspische Meer und irgendeinem Dostojewski. Nach Beginn des Krieges war er politischer Sekretär der sogenannten POUM oder Arbeiterpartei

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