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Dein Gesicht morgen: Tanz und Traum (German Edition)

Dein Gesicht morgen: Tanz und Traum (German Edition)

Titel: Dein Gesicht morgen: Tanz und Traum (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Javier Marías
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und beide stammten wir aus demselben Land, weiter im Süden, nicht so weit entfernt, auch wenn ein Meer dazwischen lag. Ich weiß noch immer nicht, warum ich ermordet wurde, ich hatte nichts Schlimmes getan und stellte auch keine Gefahr für sie dar. Ich hatte das halbe Leben oder mehr noch vor mir, wahrscheinlich hätte ich es bis zum Minister gebracht oder zumindest zum Botschafter in Washington. Ich sah es nicht kommen, ich verlor mein Leben, ich verlor alles. Sie waren wie ein Blitz ohne Donner: der eine spaltete in Stücke und der andere stand stumm daneben.« Aber vielleicht kann De la Garza nicht einmal am letzten Tag so reden, an dem jeder Mann und jede Frau noch immer die sein werden, die sie immer gewesen sind, der Grobe wird nicht zartfühlend sein, der Einsilbige nicht beredt, der Böse nicht gut und der Wilde nicht gesittet, der Grausame nicht mitleidsvoll und der Verräter nicht loyal. Rafita wird also die Anklage höchstwahrscheinlich auf seine prätentiöse, plumpe Art vortragen und dem Richter folgende Klage ins Gesicht schleudern: »Ich bin in England krepiert, hörst du, durch brutale Gewalt, da kam dieser Typ und hat mir den Kopf abgehauen über dem Deckel eines öffentlichen Klos für Behinderte, kannst du das glauben? Der dreckige Sohn einer großen Hure und Großbritanniens, ein verdammter Scheißkerl. Ich war ein Depp vor dem Herrn, nichts hab ich gerochen, eine schöne Scheiße, ich hatte gut was getrunken und getanzt und mehr noch war mir übel, Brechwurzel brauchte ich keine, ich war mit mir beschäftigt und hab nichts mitgekriegt, ich schwöre, daß ich dem nichts getan hatte, der hat sich wie ein Psychopath aufgeführt, ein absolutes Rätsel, er holte wer weiß woher ein Schwert raus, und dann hat der Brutalo mich guillotiniert, er muß sich plötzlich für Conan der Barbar gehalten haben oder für den Cid oder den Gladiator, was weiß ich, dieser Irre, ein Typ mit Westchen, das Allerletzte, auch das noch, plötzlich geht er hin und zieht blank, und seine Anwandlung kostet mich den Hals, die größte Gemeinheit meines Lebens, was für ein Witz, an diesem Ort abzukratzen. Und der andere guckt blöd aus der Wäsche, ein Typ aus Madrid, scheiß drauf, ein Landsmann, einer aus demselben Stall und hat nicht mal versucht, ihm in den Arm zu fallen, na ja, in beide, dieser Dreckskerl hielt sein Cid-Schwert mit beiden Händen gepackt, um mit aller Kraft auf mich einzuhauen, da hast du sie, die mittelalterliche Weltliteratur, fast besser so, glaub ja nicht, ein sauberer Hieb, stell dir vor, das Ding wär zur Hälfte drangeblieben, herunterbaumelnd, und ich noch halb lebendig und hätte es gesehen und gemerkt, daß man mich für nichts und wieder nichts umbrachte. Ich starb in London, ich starb dort in einer Vergnügungsnacht, ohne sie ganz ausleben zu können, mir blieb keine Zeit, sie auszukosten, man hat mir eine Falle gestellt. Das letzte, was ich tat, war niederknien, Scheißspiel, auch das noch. Und dann war schon alles zu Ende.« Ja, da ist nichts zu machen‹, dachte ich, ›er wird ihn töten. Am schnellsten von allem ist die Stimme, ich kann ihn nur noch anschreien.‹
    »Tupra!« für mehr blieb mir keine Zeit, nicht einmal dafür, »Was machst du!« oder »Bist du verrückt!« oder »Hör auf!« hinzuzufügen, wie in alten Romanen und Comicstrips, oder sonst irgendeinen unnötigen Ausruf angesichts von etwas, das keine drohende Gefahr ist, sondern in Wirklichkeit längst begonnen hat, längst eingetreten ist, ein fliegender Pfeil. De la Garza drehte für den Bruchteil einer Sekunde den Kopf zur Seite – er würde wie ein Globus rollen –, wie kurz zuvor, als er im Begriff gewesen war, mich um einen Geldschein zu bitten, um ihn sich zusammengerollt in die Nase zu stecken, das heißt, ohne den Blick ganz zu wenden, blicklos, ohne mehr sehen zu können als ein trübes Aufblitzen, das über ihm war oder ihn überflog, und doch sah er zweifellos das Schwert über sich schweben, flüchtig, aus dem Augenwinkel, und erkannte die Klinge und die Schneide, ohne sein Erkennen zu bekennen, ohne seinen Augen zu trauen und zugleich doch, denn die wirkliche Todesgefahr nimmt man immer wahr, man glaubt sofort daran, auch wenn sie am Ende nur ein tödlicher Schrecken ist. Wie wenn im Traum eine bedrohliche Situation andauert, in der Vernichtungsgefahr besteht, oder ein unablässiges Verfolgen und Einholen und weiteres Verfolgen und Einholen und das schlafende Bewußtsein der Panik und dem Fatalismus

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