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Dein Gesicht morgen: Tanz und Traum (German Edition)

Dein Gesicht morgen: Tanz und Traum (German Edition)

Titel: Dein Gesicht morgen: Tanz und Traum (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Javier Marías
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eine Illusion, denn er konnte nirgendwohin fliehen, sich nirgendwo verstecken. Aber wenn Reresby seine Schritte kannte, ich tat es nicht und De la Garza noch weniger, daher wußte ich nicht, wie ich das halbe Lächeln deuten sollte – oder nicht ganz, es war nur ein viertel, oder nicht einmal das, sondern nur sein spöttischer Ausdruck –, das ich auf seinen fleischigen, leicht afrikanischen oder eher hinduistischen Lippen zu sehen glaubte oder vielleicht waren sie slawisch, als er mit dem Schwert innehielt und es erneut hob, und so sah es wieder aus, als wollte er ihn töten, mehr noch als das erste Mal schien mir, daß er es tun würde, denn wenn eine Gelegenheit verpaßt ist, bleibt eine weniger, um sich zu retten, und die Möglichkeiten haben sich reduziert. Das ist alles, und nicht das Gegenteil.
    »Tupra, don’t!« Dieses Mal blieb mir sehr wohl Zeit, eine Silbe hinzuzufügen, es wären drei gewesen in meiner Sprache, »Tu es nicht!«, oder es hätte genügt zu sagen »Tupra, nein!«, ich sah ihn fähig und unfähig, beides zugleich, was bedeutete, dachte ich sehr viel später im Bett, daß er es dieses Mal nicht tun würde, aber durchaus die Kaltblütigkeit besaß, es zu tun – oder die Grausamkeit oder nur die Mentalität oder die geistige Verfassung, den Charakter oder die Gleichgültigkeit oder etwas, das zum Wesen »seines Bereichs« gehörte –, und daß er es vielleicht schon früher getan hatte, in seiner Jugend und in der fernen Vergangenheit, oder in seinem Erwachsenenalter und erst vor kurzem, womöglich vor Monaten, Wochen oder Tagen, ohne daß ich etwas wußte oder ahnte; vielleicht in anderen Ländern und immer im Dienst des seinen, auch wenn er vor allem auf den eigenen Nutzen bedacht war; an fernen Orten, wo ein Hieb bisweilen notwendig ist, um größere Brände zu ersticken oder zu schüren und große Breschen zu schließen oder zu schlagen, um Vorkriegswirren abzustellen oder auszulösen und Aufständische zu beschwichtigen oder anzufeuern, in jedem Fall durch Täuschung. Und was war ein Hieb verglichen damit, Cholera-, Malaria- und Pesterreger auszustreuen, wie Wheeler es vor Zeiten getan hatte oder so sagte er, oder verglichen mit einer einzigen Heimtücke, die um sich greift und ansteckt, die sich in unaufhaltsames Feuer verwandelt und alles ausglüht, oder in Epidemie und alle vernichtet, die im Weg stehen oder nur in der Nähe und selbst noch an den Rändern, alle, die weder fortgehen noch fliehen können, so oft kann man nirgendwohin flüchten und sich nirgendwo verstecken, und man hat nicht einmal einen eigenen Flügel, um den Kopf darunter zu bergen.
    De la Garza hatte beide zu Hilfe genommen, beide Arme auf dem Nacken, nutzlos wie ein Regenschirm bei einem Unwetter auf See, und hatte die Augen geschlossen, er hatte sie fest zugedrückt, und sie zitterten oder pochten – vielleicht rollten die Pupillen unter den Lidern wie verrückt hin und her –, er mußte sich klar geworden sein über die Situation, auch wenn er nicht schaute, das Schwert war heftig herabgefahren, aber es hatte innegehalten, bevor es seinen Hals erreichte, und jetzt kehrte es zu seiner Position in der Höhe zurück, vielleicht, um einen Millimeter genauer zu sein und sich der Bahn zu vergewissern, die Klinge senkrecht auszurichten oder sicherer zu zielen, die Bedrohung dauerte nicht nur fort, sondern war noch größer (aber wenn sie im ersten Anlauf wahrgemacht worden wäre, dann hätte es weiter nichts gegeben, überhaupt nichts mehr). De la Garza zog es vor, nicht noch einmal wohin auch immer zu schauen, nicht einmal blicklos, nicht einmal aus dem Augenwinkel, er wollte kein weiteres trübes Aufblitzen mehr sehen und auch sonst nichts mehr von der Welt, sein letztes Bild war ein Klobecken mit heruntergeklapptem Deckel, und die sind alle gleich, darauf seine Brieftasche und seine scharfkantige Visakarte, er wußte sich noch mehr tot und glaubte sich noch mehr tot, er hatte über einige Sekunden Bewußtsein oder Leben verfügt, um stärker zu erschrecken und zu begreifen, daß ihm wirklich widerfuhr, was ihm widerfuhr, daß er es so weit gebracht hatte, unverhofft und sinnlos, ohne einen ihm bekannten Grund für eine derartige Übertreibung, für diese Pause, oder es war ein Ende. Ich dachte, wenn man ihm ein paar Augenblicke mehr zugestanden hätte, dann wäre er imstande gewesen, plötzlich einzuschlafen, mit aufgestütztem, gegen das Bakelit gedrücktem Kopf, obwohl es als Kopfkissen unbequem und

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