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Dein Gesicht morgen: Tanz und Traum (German Edition)

Dein Gesicht morgen: Tanz und Traum (German Edition)

Titel: Dein Gesicht morgen: Tanz und Traum (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Javier Marías
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damit er zurückkehrte zum Gewebe. Er schaute vor sich hin, wo er nichts sah, seine klaren, blauen Augen waren auf jene Zeit gerichtet, die er dagegen sehr wohl in aller Deutlichkeit sah, als besäßen sie die Fähigkeit, sie mit einem übernatürlichen Fernglas zu betrachten, es war ein Blick, wie ich ihn ähnlich gelegentlich bei Peter Wheeler gesehen hatte, zum Beispiel, als ich das erste Teilstück seiner Treppe hinaufgegangen war, um ihm und Frau Berry die Stelle zu zeigen, wo ich den nächtlichen Blutfleck gefunden hatte, den so sorgsam abgewischten, den weder er noch sie erklären konnten. Es war ein Blick, den oft alte Menschen haben, auch wenn sie in Gesellschaft sind und lebhaft sprechen, es sind glanzlose Augen mit vergrößerter Iris, die sehr weit in die Vergangenheit reichen, so als würden ihre Besitzer tatsächlich physisch mit ihnen sehen, ich meine, die Erinnerungen sehen. Es ist kein abwesender oder verträumter Blick, sondern ein intensiver, konzentrierter, nur eben auf etwas, das in großer Ferne liegt. Ich hatte ihn auch an den zweifarbigen Augen des Bruders bemerkt, der den Namen beibehalten hatte, Toby Rylands. Ich meine, jedes Auge von einer anderen, eines von der Farbe des Öls und das andere von der heller Asche. Eines scharf und fast grausam, das eines Adlers oder einer Katze, und das andere das eines Hundes oder eines Pferdes, nachdenklich und rechtschaffen. Aber wenn sie so schauten, dann glichen sie einander über die Farben hinaus.
    »Ich habe gesehen, was hier geschehen ist, in Madrid«, fuhr mein Vater fort, »aber gehört habe ich noch mehr, sehr viel mehr. Ich weiß nicht, was schlimmer ist, dem Erzählen zuzuhören oder dem Geschehen beizuwohnen. Vielleicht ist das im Augenblick unerträglicher und löst größeres Entsetzen aus, aber es ist auch leichter, es zu löschen oder zu trüben und sich später darüber zu täuschen, sich einzureden, daß man nicht gesehen hat, was man sehr wohl gesehen hat. Zu denken, daß man mit dem Blick etwas vorweggenommen hat, von dem man fürchtete, es könnte geschehen, und daß es am Ende nicht geschehen ist. Dagegen ist die Erzählung etwas Abgeschlossenes, Unverwechselbares, und wenn sie schriftlich ist, kann man auf sie zurückkommen und sich vergewissern; und wenn sie mündlich ist, kann sie einem noch einmal erzählt werden, und auch wenn es nicht so ist: Worte sind unzweideutiger als Taten, zumindest die gehörten Worte im Verhältnis zu den gesehenen Taten, die oft nur erahnt sind, wie eine aufblitzende Vision, ohne Dauer, ein Aufleuchten, das zudem die Augen blendet, und das kann man dann später manipulieren, aufbereiten mit der Erinnerung; dagegen erlaubt sie uns keine allzu große Verfälschung des Gehörten, des Erzählten. Natürlich ist Erzählung ziemlich hoch gegriffen, hochgestochen für das, was ich zum Beispiel einmal in der Straßenbahn gehört habe, ein paar nachlässig hingeworfene Sätze, wenige Wochen nach Ausbruch des Krieges, die Zeit des schlimmsten mörderischen Treibens und des absoluten Chaos, viele Leute ließen sich mitreißen, voller Wut, und wenn sie Waffen hatten, machten sie, was sie wollten, und nutzten den politischen Vorwand, um persönliche Rechnungen zu begleichen und maßlose Rache zu nehmen. Na ja, das weißt du ja. Es war das gleiche auf beiden Seiten: auf der unseren hat man dem später etwas Einhalt geboten, wenn auch nicht genug; auf der anderen kaum in den drei Jahren, auch später nicht, als der Feind besiegt war. Aber die Gewalt, von der mir berichtet wurde – letztlich nicht mir, sondern jedem, der in der Nähe war, das war das schreckliche –, erschütterte mich so sehr, daß ich mich noch genau daran erinnern kann, wo die Straßenbahn in dem Augenblick vorbeifuhr, als es passierte. Wir bogen von der Alcalá in die Calle Velázquez ein, und eine Frau, die eine Reihe vor mir saß, zeigte mit dem Finger auf ein Haus, eine Wohnung in einem oberen Stockwerk, und sagte zu der anderen, die sie begleitete: ›Sieh mal, da haben reiche Leute gewohnt, die haben wir alle mitgenommen und im Morgengrauen irgendwo draußen erledigt. Sie hatten ein kleines Kind, das habe ich aus der Wiege geholt, ich habe es an den Füßen gepackt, mich ein paarmal gedreht und es gleich dort an die Wand geklatscht. Wir haben nicht einen übrig gelassen, die ganze Familie zum Teufel.‹ Es war eine Frau, die etwas primitiv wirkte, aber nicht mehr als andere, wie man sie tausendfach auf dem Markt, in der Kirche oder in

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