Dein Gesicht morgen: Tanz und Traum (German Edition)
einem Wohnzimmer sehen konnte, arm oder begütert, schlecht oder gut gekleidet, schmutzig oder reinlich, in allen Kreisen und Klassen gibt es Bestien, ich habe genau solche bei der Zwölf-Uhr-Messe in San Fermín de los Navarros gesehen, wie sie die heilige Kommunion empfingen, in Pelzmänteln und mit teurem Schmuck. Diese Frau erzählte von ihrer brutalen Tat im gleichen Ton, in dem sie gesagt haben könnte: ›Sieh mal, da war ich eine Zeitlang in Stellung, aber nach ein paar Monaten bin ich ohne ein Wort abgehauen, sie waren unerträglich. Ich habe sie sitzenlassen, mit langer Nase.‹ Völlig unbefangen. Ohne dem Ganzen große Bedeutung beizumessen. Mit dem absoluten Gefühl von Straflosigkeit, das in jenen Tagen herrschte, es war ihr egal, wer ihr zuhörte. Mit Stolz sogar. Zumindest mit prahlerischem Gestus. Natürlich mit ungeheurer Verachtung für ihre Opfer. Eine Spur Reue zu erwarten, wäre völlig illusorisch gewesen, das ist klar, davon gab es nicht den geringsten Anflug. Ich war erstarrt, fühlte Ekel und stieg aus, sobald ich konnte, eine oder zwei Haltestellen früher, um sie nicht weiter sehen zu müssen oder Gefahr zu laufen, noch mehr Heldentaten von ihr zu hören. Ich habe nichts gesagt, es war in jenen Tagen unmöglich, wenn man seinen Hals retten wollte, man konnte unter jedem Vorwand festgenommen und an irgendeinem Straßengraben erschossen werden, auch wenn man Republikaner war; oder wie dein Onkel Alfonso, der nichts war, ein junger Bursche, und das Mädchen, das bei ihm war, als sie ihn faßten, die noch weniger als nichts war. Ich habe sie aus dem Augenwinkel angeschaut, bevor ich ausstieg, eine gewöhnliche Frau mit groben, aber nicht häßlichen Gesichtszügen, jung, wenn auch nicht so sehr, um ihr das übliche fehlende Bewußtsein der jungen Jahre zu unterstellen, vielleicht hatte sie schon Kinder oder hatte sie später. Wenn sie den Krieg überlebt hat und keiner Repressalie zum Opfer gefallen ist (und dann sicher nicht wegen der Tat, von der ich sie erzählen hörte; höchstens, wenn sie sich in anderen Dingen hervorgetan hatte, die nach Ende des Krieges besser erforscht und rekonstruiert werden konnten, oder wenn jemand in einer guten Position sie auf dem Kieker hatte und sie ohne Umstände oder intuitiv denunzierte; denn das ganze frühe grausame Geschehen verblieb in einer Grauzone), ist es am wahrscheinlichsten, daß sie ein normales Leben geführt und nicht viel darüber nachgedacht hat. Eine Frau wie so viele andere, vielleicht heiter, freundlich, sympathisch, mit Enkeln, für die sie alles tut, und es ist sogar möglich, daß sie während der ganzen Diktatur eine glühende Franco-Anhängerin war und daß nichts davon ihr den geringsten Konflikt bereitet hat. Viele von denen, die unmenschliche Grausamkeiten und Verbrechen begangen hatten, haben lange Jahre so, in aller Ruhe, gelebt; hier und in Deutschland, in Italien, in Frankreich, du weißt ja, daß auf einmal niemand Nazi oder Faschist oder Kollaborateur gewesen war, und wer doch, war aufrichtig davon überzeugt, daß er es nicht gewesen war und erklärte es sich außerdem: ›O nein, bei mir war das anders‹, so lautet gewöhnlich der entscheidende Satz. Oder aber: ›Es war die Zeit, wer sie nicht erlebt hat, kann es nicht verstehen.‹ Es ist fast nie schwer, seinem eigenen Gewissen zu entrinnen, wenn man es um jeden Preis will oder braucht, schon gar nicht, wenn dieses Gewissen geteilt wird, wenn es Teil eines größeren, kollektiven oder sogar massenhaften ist, das macht es leichter, sich zu sagen: ›Ich war nicht der einzige, ich war kein Monstrum, ich war nicht anders, ich habe mich nicht hervorgetan; man mußte ja überleben, und fast alle haben das gleiche getan oder hätten es getan, wenn sie schon auf der Welt gewesen wären.‹ Und gerade für die Gläubigen kann es leichter sein als für alle anderen, von den Katholiken ganz zu schweigen, die Geistlichen sind da, um sie in ihrem erhabenen, tiefinneren Bereich zu reinigen, und die hiesigen, da kannst du sicher sein, waren bereit wie nie, freizusprechen, zu relativieren und jede Gemeinheit oder Brutalität ihrer Beschützer und Kameraden zu rechtfertigen, du mußt bedenken, daß auch sie kriegführend waren und sie angefeuert haben. Na ja, das alles ist hilfreich, aber es ist nicht einmal nötig. Die Leute haben eine unglaubliche Fähigkeit, willentlich zu vergessen, was sie angerichtet haben, ihre blutige Vergangenheit auszulöschen, nicht nur vor den
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